■ Zum neuen Abtreibungsrecht in Polen: Gesellschaft gegen Kirche
Um das Verhältnis des polnischen Episkopats zu den Menschenrechten zu kennzeichnen, griffen laizistische Demokraten wie Adam Michnik in den 70er und 80erJahren auf den Unterschied zwischen der „konstantinischen“ und der „julianischen“ Kirche zurück. Erstere sollte für das Staatskirchentum, letztere für die verfolgte Glaubensgemeinschaft der Katakomben stehen. Michnik sah damals die polnische Kirche als Katakombenkirche und bestätigte ihr, auf dem Weg von der Wahrnehmung ihrer bornierten Interessen hin zu einer Instanz zu sein, die ausnahmslos die Menschenrechte aller verteidigte, mochten sie nun gläubig sein oder nicht. Die Erfahrung seit der demokratischen Wende 1989 hat gelehrt, daß Toleranz und Pluralismus bei den Kirchenmännern nur einen historischen Augenblick lang Konjunktur hatte. Die Offensive des politischen Klerikalismus vom obligatorischen Religionsunterricht bis hin zu der Forderung, die Abtreibung unter geradezu terroristische Strafandrohung zu stellen, steht für die Rückwendung zur Vorstellungswelt der triumphierenden Kirche.
Die Wende des polnischen Katholizismus war voraussehbar, traf aber die laizistische demokratische Intelligenz gänzlich unvorbereitet. Kaum einer der Oppositionellen, die den Realsozialisten so mutig die Stirne geboten hatten, wagte es, für das Recht der Mütter auf Austragung bzw. auf Abbruch der Schwangerschaft einzutreten. Wer überhaupt angesichts der massiven kirchlichen Einschüchterungskampagne ein kritisches Wort wagte, beeilte sich, die Abtreibung moralisch zu verurteilen, eher er am Sinn der Strafandrohung Zweifel anmeldete. Wiederum zeigte es sich, daß Entschlossenheit gegenüber einem gemeinsamen Feind, der realsozialistischen Staatsmacht, und Zivilcourage gegenüber einer allseits anerkannten und bewunderten Autorität, der Kirche, zweierlei Dinge sind.
Ein Faktor allerdings bewog die Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren zu einer zögernden Vorgehensweise: es bestanden nie Zweifel daran, daß die Mehrheit der polnischen Frauen, obgleich treue Töchter der Kirche, in der Abtreibungsfrage darauf bestanden, selbst entscheiden zu können. Zu diesem Faktor gesellte sich das Unbehagen, mit einer intransingenten Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch den allgemeinen europäischen Entwicklungsweg zu verlassen und damit die Parole „Zurück nach Europa“ Lügen zu strafen. Aber Zweifel dieser Art hätten nie und nimmer dazu geführt, daß das polnische Parlament jetzt den Gesetzentwurf, beispielsweise durch die Aufnahme der Indikation, in einer für die katholische Kirche kaum noch tragbaren Weise „gemildert“ hat. Ausschlaggebend war, daß sich außerhalb des Parlaments eine politische Massenbewegung gegen das Abtreibungsgesetz formiert hat
Christian Semler
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