Kanzlerschelte aus den eigenen Reihen

■ Solidarpakt: CDA gegen Einschnitte ins soziale Netz

Berlin (taz/dpa/AFP) – Bundeskanzler Kohls Äußerungen zu angeblichem „Wildwuchs“ bei den Sozialleistungen haben den Arbeitnehmerflügel der CDU zu heftigem Widerspruch veranlaßt. Der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU-Sozialausschüsse (CDA), Wolfgang Vogt, warnte in einem Positionspapier davor, zur Finanzierung des Solidarpakts für den Aufbau Ost weitere Sozialleistungen zu kürzen. Der Sozialstaat sei keineswegs „ausgeufert“, sondern es habe bereits eine Umverteilung zu Lasten der unteren Einkommen stattgefunden: Die Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit seien von 76,9 Prozent im Jahr 1982 auf 70,8 Prozent 1991 gesunken. Im gleichen Zeitraum sei der Anteil der Einkommen aus Unternehmertätigkeit von 23,1 auf 29,4 Prozent gestiegen. Dies belege, daß der Sozialstaat seine Ansprüche an das Volkseinkommen „deutlich zurückgeschraubt“ habe.

Jetzt Einschnitte ins soziale Netz zu fordern, nannte Vogt als „dummes Gerede, das in den Ohren derjenigen wie Hohn klingen muß, die bisher schon erhebliche Leistungskürzungen haben hinnehmen müssen“. Vogt wies auf „beträchtliche Defizite“ des Sozialstaates hin, die auch das Bundesverfassungsgericht attestiert habe. Den Vorschlag, die Sozialhilfe um drei Prozent zu kürzen, um den Abstand zwischen Löhnen und Lohnersatzleistungen zu vergrößern, wies er zurück: „Dann müßte die Sozialhilfe in einem Ausmaß gekürzt werden, das wegen Verletzung der staatlichen Verpflichtung zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz mit Sicherheit verfassungswidrig wäre.“

Vogt rief die Arbeitgeber dazu auf, sich den Vorschlag des Sachverständigenrates zu eigen zu machen, den Beitragssatz für die Bundesanstalt für Arbeit um zwei Prozentpunkte zu senken. Die dadurch entstehende Finanzlücke solle durch einen Zuschuß des Bundes ausgeglichen werden, der durch eine zeitlich befristete degressive Ergänzungsabgabe zur Einkommen- und Körperschaftssteuer finanziert werden könne.

Der CDA-Vorsitzende Ulf Fink sprach sich ebenfalls gegen eine Kürzung der Sozialhilfesätze aus. Um den „Mißbrauch“ von Sozialhilfe zu bekämpfen, schlug er aber vor, verstärkt Sozialhilfeempfänger zu gemeinnützigen Arbeiten heranzuziehen. Dies könne auch auf Empfänger von Arbeitslosenhilfe ausgedehnt werden.

Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Rudolf Dreßler sagte, die „wirklichen dummen Sprüche des Kanzlers über einen angeblichen ,Wildwuchs‘ im Sozialbereich lassen für mich nur einen Schluß zu: Der Kanzler will den Solidarpakt gar nicht mehr.“ Auch der Sprecher des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, wandte sich entschieden gegen die Debatte um die vermeintlich zu hohe Sozialhilfe. Das Institut der deutschen Wirtschaft habe erst kürzlich bestätigt, daß der erforderliche Abstand zwischen Löhnen und Sozialhilfe gewahrt sei. „Fälle von Vier-Personen-Haushalten, die mit einem Nettoeinkommen unter dem Sozialhilfesatz leben müssen, werfen vielmehr ein Schlaglicht auf die mangelhafte Tarif- und Familienpolitik“, sagte Schneider.

Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (CDU) will den Solidarpakt wie geplant bis Ende Januar unter Dach und Fach haben. Er versicherte, in die Verhandlungen würden nicht nur Kürzungen im sozialen Bereich, sondern auch Subventionen, Steuervergünstigungen und Finanzhilfen einbezogen. Details blieb er jedoch schuldig. Die von SPD und Gewerkschaften geforderte Arbeitsmarktabgabe lehnte Bohl, der auch Koordinator der Gespräche ist, ab. Auch eine von den Unternehmern ins Gespräch gebrachte Absprache über die Tarifrunde 1993 im Rahmen des Solidarpaktes wies Bohl zurück. win