Hamburg macht krank an Körper und Seele

An der Spitze der Krankmacher stehen Anonymität und der Autoverkehr / Menschen in der Stadt immer unwichtiger /  ■ Expertenanhörung

Ist das Leben in Hamburg ungesund? Was macht HamburgerInnen krank? Fragen, für die es ein Bündel verschiedener Antworten gibt. Das zeigte auch die Anhörung der VertreterInnen von Initiativen und Verbänden, die sich in Hamburg auf verschiedene Weise mit dem Thema Gesundheit befassen. Die Dokumentation des Hearings „Gesunde Stadt — Kranke Stadt“, zu dem die GAL-Bürgerschaftsfraktion im November geladen hatte, liegt jetzt vor.

Lärm von Autos, Flugzeugen und Industrie, Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung, gesundheitsschädliche Stoffe in Lebensmitteln, der Straßenverkehr, aber auch soziale Faktoren wie Streß, Leistungsdruck, Arbeitslosigkeit, Anonymität, Ausländerfeindlichkeit und die Häßlichkeit in bestimmten Stadtteilen sind darin als Krankmacher genannt.

Vor allem zwei Faktoren, die das Leben in Hamburg ungesund machen, kristallisierten sich bei der Anhörung heraus — der Straßenverkehr und die Anonymität: „In Hamburg ist man etwas steifer als anderwo.“

Die Einsamkeit greift Körper und Seele an, meint der Psychologe Peter Riedel. „Hamburg antwortet nicht. Die Großstadt hat die Menschen an allen Ecken und Enden durch Automaten ersetzt. Ampeln, Geldautomaten, Fahrscheine auf Knopfdruck. Menschen sind immer unwichtiger geworden und haben nichts zu sagen. Sie reden nicht mit mir, die Automaten nicht, die Menschen nicht, ich bleibe allein unterwegs.“

Hamburg kranke außerdem an der Hektik, so Riedel weiter. „Zeitpläne diktieren den Tagesablauf, mir bleibt kein Spielraum für spontanes Tun und Handeln nach eigenen Bedürfnissen. Unterdrücken von Bedürfnissen macht krank.“ Dazu kommt aus Sicht der

1Psychologen der ungesunde Mangel an Freiräumen. Abenteuerspielplätze seien im DIN-Format angelegt und Gärten zum „Äppel woll'n wir klau'n ... ruck, zuck über'n Zaun“, gebe es kaum noch.

Der Straßenverkehr gehört zu den entscheidenden Gesundheitsproblemen im Ballungszentrum Hamburg, das bestätigt auch Dr. Hermann Neuss von der Gesundheitsbehörde. Derzeit sind in der Stadt etwa 750000 Kraftfahrzeuge zugelassen, davon 670000 Pkw, die Tendenz ist steigend. Dazu kommen in Scharen Pendler aus dem Hamburger Umland. Diese tragen wesentlich zur Verkehrsbelastung bei, von der die inneren Stadtteile besonders betroffen sind.

Weniger Lebensqualität

„Die Lebensqualität der dort arbeitenden, einkaufenden und besonders der dort wohnenden Menschen wird hierdurch gemindert, das gesundheitliche Wohlbefinden verringert und das Risiko, zu erkranken oder einen Unfall zu erleiden, erhöht“, schreibt in ihrer „Stadtdiagnose“ die Gesundheitsbehörde. „Autoverkehr gefährdet Ihre Gesundheit“ müßte eigentlich auf jedem Kraftfahrzeug stehen — in Abwandlung des Aufdrucks auf Zigarettenverpackungen. Denn das vielgeliebte Fortbewegungsmittel verursacht Gesundheitsschäden wie Herz-, Kreislauf-, Atemwegs- und Krebserkrankungen, Störungen des seelischen Wohlbefindens, und nicht zuletzt Verletzungen und Tötungen durch Unfälle.

Immer mehr Menschen verunglücken auf Hamburgs Straßen. Die Zahl der durch Unfälle Verletzten stieg laut „Stadtdiagnose“ von 10855 im Jahr 1985 auf 13088 im Jahr 1989. Mehr als 100 Menschen sterben jedes Jahr in Hamburg an einem Verkehrsunfall — ein eindeu-

1tiger Beweis für die tödlichen Gefahren, die von den Kraftfahrzeugen ausgehen.

Die schädlichen Auswirkungen des Lärms sind dagegen nicht so offensichtlich. Nicht nur den Schlaf stört das dauernde Motorengedröhn und Hupen. Es kann zu hohem Blutdruck, sogar zum Herzinfarkt führen. Der Zusammenhang zwischen Straßenlärm und hohem Blutdruck sei zwar noch nicht statistisch bis ins Letzte abgesichert, so Neuss, aber fast alle wissenschaftli-

1chen Untersuchungen zeigten, daß es in Gebieten mit viel Verkehrslärm mehr Bluthochdruckerkrankungen und Herzinfarkte gibt als in ruhigen Gegenden.

Dazu kommen die Abgase. Aus den Auspuffrohren quillt ein giftiger Cocktail von Luftschadstoffen und Reizgasen, die die Atemwege schädigen oder Krebs erzeugen können. Was für geplagte Fußgänger und Radler ein zynischer Trost sein mag: Auch im Wagen ist die Luft verpestet. Die Konzentration von Benzol und Kohlenmonoxid kann im Auto höher sein als draußen. Als besonders gefährlich gelten die im Motorenqualm enthaltenen krebserregenden Stoffe wie Benzol, Dieselruß und polizyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK). Nach den neuesten Risikoabschätzungen sei Dieselruß der schlimmste, berichtet Neuss.

Nicht zu unterschätzen sind nach seiner Auffassung aber auch die nicht meßbaren psychosozialen Folgen des Autoverkehrs in der Stadt. „Ab 65 Dezibel kann man sich draußen nicht mehr unterhalten.“ Das schadet den sozialen Kontakten. Dazu kommt der gefräßige Flächenverbrauch von Straßen und Parkplätzen. In Hamburg sind rund 26 Quadratkilometer allein für Fahrbahnen asphaltiert, mehr als drei Prozent der Gesamtfläche der Hansestadt. Gespräche, Spielen oder Sport vor der Tür sind in vielen Stadtteilen heute unmöglich. In verkehrsreichen Wohngebieten wirken die Autopisten wie Barrieren für die Streifzüge vor allem der jüngsten Bewohner. Viele Eltern verbieten ihren Kindern von vornherein, draußen zu spielen, weil sie um die Sicherheit ihres Nachwuchses fürchten. Deshalb mangelt es den Kids oft an Bewegung — auch das ist ungesund.

Für einige Bevölkerungsgruppen sind die ohnehin massiven Probleme nochmals verschärft. So stoßen viele der 170000 behinderten Menschen, die in Hamburg leben, auf unüberwindliche Hürden: Treppen versperren den Weg, in Gaststätten und Theatern fehlen behindertengerechte Toiletten. „Wir wären nur halb so behindert, wenn unsere Umwelt rollstuhlgerechter wäre“, kritisiert Angelika Mincke von der Schwerbehinderteninitiative „On the Move“. „Zur Anhörung ins Rathaus komme ich nur über eine Treppe, und in der 'Neuen Flora‘ muß ich mit dem Rollstuhl in die Tiefgarage fahren, und da gibt es keinen Fahrstuhl.“

Vera Stadie