Aus Serbien geflohen, in Berlin fast getötet

Das Zusammentreffen einer Psychopathin mit einer moslemischen Roma endete für das Opfer fast tödlich/ Seit dem Attentat kann sich Milka E. kaum mehr selbst um ihre schwerstbehinderte Tochter kümmern  ■ Von Anita Kugler

Am späten Abend des 15. Juli 1992 geschah am Schleusenweg im Tiergarten eine vollkommen sinnlose und grausige Bluttat. Eine 30jährige Berlinerin verletzte mit sieben Messerstichen in Herzkammer, Lunge, Niere und Bauch eine 53jährige Jugoslawin lebensgefährlich. Opfer und Täterin hatten sich noch nie gesehen und werden es auch nie.

Die Tat hätte verhindert werden können, wenn irgend jemand die Weichen anders gestellt hätte; wenn die Notsignale der Messerstecherin ernst genommen worden wären oder die Niedergestochene sich nicht in einer ausweglosen Lage befunden hätte.

Das Opfer dieses fast tödlichen Zwischenfalls war die 53jährige Roma Milka E. Zwei Monate lang lag sie im Koma auf der Intensivstation des Moabiter Krankenhauses, einen weiteren Monat schwebte sie zwischen Leben und Tod. Vor drei Wochen feierte die Familie ihre Entlassung aus der Klinik. Die ihr zugefügten inneren Verletzungen schmerzen sieben Monate nach den Messerstichen immer noch, den linken Arm wird sie vielleicht nie wieder bewegen können. Sie bräuchte eine Rehabilitationskur, aber wer sollte dies bezahlen? „Ich bin doch nur ein Flüchtling“, sagt sie und bittet im gleichen Atemzug, doch unbedingt den Ärzten und Krankenschwestern der Station 28 A für ihre Pflege zu danken. Ganz schmal und verhuscht ist die einst kräftige Frau geworden, dieser letzte Schicksalsschlag traf eine Frau, die noch nie Glück in ihrem Leben gehabt hatte.

Einen Monat vor dem Attentat war Milka E. aus Nis, Südserbien nach Berlin geflüchtet. Obwohl Südserbien kein direktes Kampfgebiet war, gab es viele Gründe, das Land zu verlassen. Wichtigster Grund: Die Versorgung ihrer 17jährigen Tochter Danijela war in der Heimat gefährdet. Das Mädchen ist seit ihrem dritten Lebensjahr körperlich und geistig schwerstbehindert, die jugoslawischen Ärzte vermuteten die Folge einer Kinderlähmung oder die Infizierung durch verseuchtes Wasser.

Seit es wegen des Krieges keine Medikamente und Lebensmittel mehr gab, verschlimmerte sich der Zustand des Mädchens von Tag zu Tag. Die Verkrampfungen lösten sich nicht einmal mehr minutenweise.

Und als ob dieses Unglück für eine Flucht noch nicht ausgereicht hätte: Milkas Ehemann, ebenfalls moslemischer Rom und 61 Jahre alt, war im Frühjahr von der Bundesarmee zum Kriegseinsatz nach Bosnien gezwungen worden. Als auch noch der letzte Mann in der Familie, der Schwiegersohn Goran A., seinen Einberufungsbefehl gegen das eigene Volk und gegen seine eigenen Glaubensgenossen in den Händen hielt, war das Maß voll. Milka E. flüchtete mit der schwerstbehinderten Danijela, dem Schwiegersohn, der Tochter Gordana und deren Baby nach Berlin.

Hier lebt eine weitere Tochter von Milka E., eine, die vor vielen Jahren als Gastarbeiterin nach Deutschland gekommen war und schon lange mit einem Deutschen verheiratet ist. Aber in Berlin gibt es viele Behörden und viele Flüchtlinge mit schlimmen Geschichten. Da ist es nicht verwunderlich, wenn die Beamten nicht mehr zuhören können. Und deshalb fand Milka E. hier nicht die Sicherheit, die sie für ihre Tochter brauchte.

Das unausweichliche Unglück

Auch die Geschichte der Attentäterin ist eine leidvolle. Genau zu dem Zeitpunkt, als Milka E. in Berlin eintraf, wurde die Dreißigjährige wegen einer Lappalie in die Frauenhaftanstalt Plötzensee eingewiesen. Ihr Unglück war, daß sie dort bleiben wollte, aber nicht durfte. Denn sie war psychisch krank und fühlte sich durch die fremdbestimmte Ordnung im Gefängnis vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben geborgen. Immer wieder bat sie die Psychologen und Sozialarbeiter von Plötzensee, sie doch im Gefängnis zu behalten oder sie in eine psychiatrische Klinik einzuweisen.

Justizmitarbeiter brachten sie sogar zur Untersuchung in die Spandauer Nervenklinik. Weil aber ausgerechnet an diesem Tag die Frau vollkommen verstummte, blieb die Vorstellung, nach Auskunft des Ärztlichen Leiters der Klinik, Eberhard Jung, ergebnislos. Ihr heftiges Begehren, durch Haftverlängerung oder Klinikaufenthalt weiter betreut zu werden, war sogar Gesprächsstoff im Abgeordnetenhaus. Albert Eckart von der Alternativen Liste stellte wenige Tage vor ihrer Entlassung eine entsprechende kleine Anfrage. Er mußte sich aber mit der Antwort zufriedengeben, daß die rechtlichen Möglichkeiten für eine Haftverlängerung geprüft worden seien, es aber keinen anderen Ausweg als die Freiheit geben könne.

Einen Tag vor den Messerstichen im Tiergarten wurde die inzwischen vollkommen verzweifelte Psychopathin entlassen. Wie die Justizsprecherin Uta Fölster später bestätigte, meldete sich die Frau sogar am 15. Juli, wenige Stunden vor der Tat, telefonisch in Plötzensee. Mit den Worten: „Ich mach' was...“ drohte sie, die Aufnahme ins Gefängnis jetzt zu erzwingen.

Zu diesem Zeitpunkt befand sich ihr späteres Opfer Milka E. im Büro von Rita Kantemir, Flüchtlingsberaterin der AL und bei allen Roma als Helferin in aussichtlosen Fällen wohlgelitten. Die Jugoslawin hatte, weil die Wohnung der in Berlin lebenden Tochter für die behinderte Danijela und für die Familie des Schwiegersohns auf Dauer zu klein war, eine Duldung beantragt und auch erhalten. Aber — und damit begann die neue Unglückskette — das zuständige Sozialamt Wilmersdorf hatte der Roma-Familie unterschiedliche Heime zugewiesen. Tochter und Schwiegersohn kamen in ein Flüchtlingsheim nach Schöneberg. Milka E. und die völlig bewegungsunfähige Danijela aber sollten in ein Heim nach Spandau. Und diese Entscheidung war für Milka E. eine Katastrophe. Denn die Zuweisung bedeutete, daß sie ab sofort die Versorgung der schwerstbehinderten Tochter alleine bewerkstelligen mußte. Und das wäre ihr, wie ein Besuch in Spandau ergab, nicht gelungen.

Denn die Tochter ist so hochgradig behindert, daß sie Pflege rund um die Uhr braucht und keinen Augenblick alleine bleiben kann. Sie kann weder sitzen, noch hat sie Einfluß auf irgendeinen Körperteil oder Organ. Transportiert wird sie in einem selbstgebauten Karren, der so sperrig ist, daß er in keine U-Bahn, geschweige denn in einen Bus paßt. Wenn Milka E. zu dem für sie zuständigen Bezirksamt Wilmersdorf hätte fahren müssen, wäre sie gezwungen gewesen, ihre Tochter 15 Kilometer im Karren durch die Stadt zu ziehen. Aber auch im Heim hätte Milka E. das Gefährt nicht bewegen können. Wenn die Mutter ihre inkontinente Tochter hätte waschen wollen, dann hätte sie Danijela aus dem Karren heben, sie in die Gemeinschaftsdusche tragen und dort auf den Betonfußboden legen müssen. Und weil all dies nicht ging und sich Milka E. auf keinen Fall von der Tochter trennen wollte, war sie an diesem 15. Juli bei Rita Kantemir. Sie bat die Flüchtlingsberaterin, alles zu tun, um zu erreichen, daß sie zu Tochter und Schwiegersohn ins Schöneberger Asylbewerberheim eingewiesen wird. Denn gemeinsam hatte man sich immer gut um Danijela gekümmert und wollte dies auch weiter tun.

Noch während Rita Kantemir mit dem Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben telefonierte, verließ Milka E., die ohne die behinderte Tochter zum Termin erschienen war, plötzlich das Büro. Sie war den ganzen Nachmittag sehr unruhig, nervlich sehr angespannt und wollte zu Danijela, erinnert sich Rita Kantemir. Was anschließend genau geschah, läßt sich nicht mehr rekonstruieren.

Milka E. muß sich in der ihr unbekannten Stadt verirrt haben und desorientiert durch den Tiergarten gelaufen sein. Genau dorthin, wo die ebenfalls verzweifelte Haftentlassene umherirrte. Die kranke Frau muß in der Ausländerin offensichtlich ein schwaches Opfer erkannt haben, denn wie die Untersuchung später ergab, wurde sie ganz gezielt niedergestochen. Und dies dauerte Minuten.

Ende gut, nichts ist gut

Die Attentäterin erreichte mit ihren Messerstichen das, was sie vorher ohne Gewalt gefordert hatte, nämlich ihre Einweisung in die geschlossene Abteilung einer psychiatrischen Klinik. Milka E. erreichte ebenfalls, was ihr vordem verwehrt worden war, mußte aber dafür einen hohen Preis bezahlen. Seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus lebt sie mit Danijela und ihrem inzwischen aus der Armee desertierten Ehemann sowie mit der ebenfalls aus Nis gekommenen stark sehbehinderten Adoptivtochter Marija in dem Schöneberger Flüchtlingsheim. In einem kleinen Zimmer, dafür aber Tür an Tür mit Tochter, Enkelin und Schwiegersohn. Beide Familien teilen sich eine Dusche und mit zwei weiteren Flüchtlingsfamilien aus Bosnien eine kleine Küche. Die Versorgung der Schwerstbehinderten ist also sichergestellt, obwohl sie schwieriger denn je zu pflegen ist. Denn auf die monatelange Abwesenheit der Mutter reagierte Danijela mit Angstanfällen und Nahrungsverweigerung. Ihre Arme und Beine sind streichholzdünn, das ganze Persönchen höchstens einen Meter kurz. Nur ganz langsam begreift sie, daß die Mama wieder da ist. Mehr als Mama kann sie nicht sagen.

Wie es jetzt weitergehen soll, weiß niemand. Die Milka E. zugefügten Verletzungen schränken ihre Bewegungsfähigkeit auf Dauer ein, bettlägerig wird sie noch lange bleiben. Ihr Ehemann Slobodan ist ebenfalls sehr schwach, man sieht ihm an, daß das Glück an ihm vorbeigegangen ist. Danijela kann auch er nicht alleine tragen. Die Pflege von Mutter, der sehbehinderten 11jährigen Marija und der schwerstbehinderten Danijela teilen sich derzeit die im Flüchtlingsheim lebende Tochter Goran, Schwiegersohn und die hier in Berlin ständig lebende deutschverheiratete Tochter. Aber diese erwartet ein Baby. Und das Leben im Schöneberger Heim ist ein Provisorium. Die der Familie erteilten Duldungen laufen Ende März aus. Zurück kann keiner mehr. Den desertierten Männern würde das Kriegsgericht drohen oder die Feme aufgebrachter Serben. Ohne Medikamente und Spezialnahrung würde Danijela sterben. Und Milka E.? Sie ist nicht im Krieg verwundet worden, sondern von einer Deutschen, die selber der Hilfe bedurft hätte. Rita Kantemir sieht deshalb nur einen Ausweg.

Als „Entschädigung“ für das Milka E. angetane Unrecht fordert sie für sie und ihre Familie ein Bleiberecht in Berlin. Dazu eine finanzielle „Wiedergutmachung“, die wenigstens für eine Rehabilitationskur reicht. Und als dringendstes natürlich, eine für eine große Familie ausreichende und behindertengerechte Wohnung mit einer behindertengerechten Badewanne. „Das wären Zeichen praktischer Solidarität“, sagt sie, „nicht weihnachtliche Kerzen im Hause des Innensenators.“