Mißgunst einer Lebensspanne

Was jenseits von Bildern in einer Retrospektive sichtbar wird. Wo Museen hinreichen und wo nicht mehr. Drei Ausstellungen in New York: Henri Matisse, Jean-Michel Basquiat, „Fragile Ökologien“  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Wenn es für das Kunstwerk einen idealen Ort gäbe, so wäre er zur Zeit in den gefederten Kühlcontainern der Transportunternehmen zu vermuten: dort, im vibrierenden Bauch einer Boeing747, den Blicken, der Sorge und Pflege, der Notwendigkeit, hier und nicht dort zu sein, für eine Weile enthoben. Es würde dieselbe Regel gelten wie für Manager oder Politiker: Der gesellschaftliche Wert wäre zu definieren über die in einem Flugzeug verbrachte Lebenszeit. Und wenn das Kunstwerk irgendwann zurückkehren würde ins Museum, um wegen Anfälligkeit und Altersschwäche nicht mehr entliehen zu werden, wäre das Kunstwerk dem Manager vergleichbar, der seinen Lebensabend mit Minigolf verbringt: für Zwecke der Repräsentation nur noch bedingt einsetzbar.

So oder ähnlich müssen die Aufsichtsdirektoren und Kuratoren des Museums of Modern Art in der 53.Straße New Yorks über Kunstwerke denken, die das Museum besitzt. Während das erste und zweite Stockwerk des Museums ausgeräumt wurden für eine „Retrospektive Henri Matisse“, wurde im kleineren Rundgang des Erdgeschosses eine Ausstellung mit Werken eingerichtet, die dem Museum gehören, und die – als würde nur einen ordnende Hand die Gegenwart der gemalten Bilder, der wertvollen Fotografien und der Skulpturen rechtfertigen können – „thematisch“ präsentiert werden. Für die sechs oder sieben eher kleinen Räume wird der reguläre Eintritt erhoben ($7,50), die einzige Möglichkeit, an den Massen vorbei ins Museum zu kommen, die wie zusammengetriebenes Vieh vor den Glastüren, zwischen Türen und Sonderpforte, zwischen Sonderpforte und Rolltreppe stehen oder sich ruckartig vorwärtsbewegen, um im ersten Stock den ersten Teil einer „Retrospektive Henri Matisse“ zu sehen, im zweiten Stock den zweiten Teil, Rückkehr ausgeschlossen, Toiletten in den Ausstellungsräumen nicht vorhanden (nur im Treppenhaus).

Versuch einer Umwertung

So passiert, was auch schon bei der Velazquez-Retrospektive in Madrid zu beobachten war: Die Besucher halten sich für langes Warten in den ersten Räumen der Ausstellung schadlos. So stellt sich in der Betrachtung der Werkfolge eine Verzerrung ein, die eigenartigerweise einer bestimmten inneren Wahrnehmung von Lebenszeit ähnelt: Die Mühen der Jugend erscheinen lang, während die mittleren Jahre bis ins Alter an einem vorbeirauschen. Bei Matisse wird diese Erfahrung noch verschärft dadurch, daß seine Suche nach Gegenstand, Genre und Methode fast fieberhaft verläuft und den Betrachter unwillkürlich involviert, als müßte der Ausweg aus den Beschaulichkeiten des 19.Jahrhunderts noch einmal gefunden werden, ins Offene einer Bildwelt, die die Priorität von Gegenstand und Anschauung umkehrt: Alles, was darstellbar ist, wird Teil der Methodenfrage.

Schon in dem ganz frühen „Stilleben mit Büchern“ vom Juni 1890 zeigt sich die enorme Sensibilität des Malers Matisse für die Integration und Verwebung visuell kontingenter Erscheinungen: Der Titelkopf einer Zeitung („Repu...“) wird als leicht in die Unschärfe gebrachte Typographie ins häusliche Stilleben integriert. Um 1900 gibt es schon reife Stilleben, in der „Durchdringung“, der Verschmelzung von Strukturen mit vagem Sinn für ihre räumliche Tiefe, erreicht Matisse seine Meisterschaft, aber deren Ausdruck ist nicht meisterlich, sondern verbleibt im Modus der Studie, des gerade Gesehenen. Ohne weiteres könnte man ihn so für ein paar Jahrzehnte malen sehen, in einem Künstlerkloster mit einem Dutzend marokkanischer Läufer und Decken, ständig frischen Blumen, ein paar Schalen... Sein Gelingen liegt in Umgehungen und Auslassungen, einer Heiterkeit, die die Totalität sinnlicher Erfahrungen beispielhaft auf das Greifbare reduziert.

Jedoch, das Paris des ersten Viertels dieses Jahrhunderts ist kein Hag seltener Pflänzchen, eher eine Expedition mit einem gewaltigen, ehemals prächtigen, nun rostigen Passagierschiff. Man kennt sich, tauscht die Rollen, lenkt sich ab. Die hektische Kleinteiligkeit Derains bekommt Matisse nicht gut, Picassos und Legers Monumentalität nimmt ihm die Dichte, Versuche mit Beckmanns entschiedenem Strich geraten ihm zu gewichtig. Ende Rundgang erster Stock.

Natürlich ist eine solche Retrospektive der Versuch einer Umwertung, Matisse wird als großer europäischer Maler vorgeführt wie ein Rennpferd mit Außenseiterchancen: „The winner takes it all.“ Das Museum zeigt seine Muskeln: fast unbekannte Bilder als Leihgaben aus Privatsammlungen, Meisterwerke aus dem Musée National d'Art Moderne, ein wichtiges „Danse“-Bild aus der Eremitage; und natürlich kommen etliche der Bilder aus der Sammlung des Museums selbst und zwinkern den New Yorkern heimlich zu.

Jedes Gelingen ein taktisches

Dennoch, auch ein Blockbuster der Schönen Künste ist keine Garantie für ein rasend ungetrübtes Amüsement. Selbst ein leicht hysterisiertes Publikum bleibt empfänglich für die starken und die schwachen Seiten einer Show. Etliche Räume mit Bildern aus Matissens Zeit in Nizza zeigen den Meister begeistert für das Schöne; ratlos, dauerhaft zu Haus in unergiebigen Genres, Zimmer mit Ausblick, Akte. Wo die Fragestellungen verblassen, wird auch die Passion für Vollständigkeit fraglich; es gibt nichts zu beweisen und nichts zu widerlegen. Die bekannten, reifen Bilder aus den späten Vierzigern, als Matisse zu seinen Montagen von Mustern und Flächen zurückkehrt, und die Illustrationen und Scherenschnitte retten den Künstler, der einer Rettung nicht bedarf. Aber nicht die Ausstellung. Die Menge gezeigter Bilder zeigt sich als apparativer, institutioneller Bluff, der Blockbuster offenbart seine Rückseite (das, was statt dessen nicht zu sehen war). Tendenz: Die Namen der Künstler wechseln, die Dynamik der populären Ausstellung verhärtet sich.

Während die Retrospektive Matisse die Homogenität des Lebenswerks beschwören möchte, wird gerade hier deutlich, wie erfolgreich die Zersetzung der Maßstäbe klassischer Repräsentation ist. Ist der Zweifel an der geordneten Gegebenheit der darstellbaren Welt erst einmal artikuliert, wird der Grad, in dem das Individuum seine Artikulation organisiert hat, Maßstab seiner Entwicklung. Unfreiwillig wird jede Bequemlichkeit als Rückschritt vermessen. Jedes Gelingen ist ein taktisches, die Besetzung von ungesehenem Terrain. Mit van Gogh, Picasso und Matisse hat die Kunst der Moderne die Lehrwerkstatt geschlossen, Bildungserlebnisse sind als Falltüren konstruiert. Viel dringlicher als die stringenten Weigerungsparolen Duchamps macht die Aporie der Malerei von Henri Matisse glaubhaft, daß es der Kunst tatsächlich gelungen sein könnte, ihre Jahrtausende alte Basis zu durchlöchern.

Sich in diesem Feld vorsätzlich gestörter Referenzen zu bewegen heißt folglich, den Einsatz von Energie zu erhöhen. Sich auf akademische Maßstäbe einzulassen und sich später davon freizumachen muß als Umweg gelten; das Bild muß von einem Selbstbild gedoppelt und durch eine Spiegelung dessen vervollständigt werden. Im Jahrhundert der Travestie, der Entkolonialisierung der Kolonien, der Exile müssen die Identitäten mehrfach geschichtet sein, teils transparent, teils undurchsichtig. Der frühe Tod der Künstler-Ikonen ist das deutlichste Indiz der Transformation einer Kunstform – ins ihr nicht mehr angestammte Terrain, ins Globale und Populäre, was gleichzeitig bedeutet, daß traditionelle Quellen der jeweiligen Kunstgattungen verschüttet werden und Querverbindungen geöffnet: Charlie Parker, Jack Kerouac, Ingeborg Bachmann, Jimi Hendrix.

An der Leinwand alphabetisiert

Jean-Michel Basquiat ist mehr als nur ein gutes Beispiel, er ist eine zentrale Ikone in der Malerei dieser Jahrhunderthälfte. Als Kind mittelständischer Eltern mit karibischem und hispanischem Hintergrund im Dezember 1960 zur Welt gekommen, ist er das typische Kid aus Brooklyn. In der Schule zeigt er sich als guter Athlet, wird von seiner Mutter in die New Yorker Museen mitgenommen (auch ins MoMA); wird als Achtjähriger bei einem Autounfall schwer verletzt, die Eltern trennen sich. Als Jugendlicher kommt er von einem zweiwöchigen Weglauf-Ausflug nach New York City mit der Nachricht zurück: „Papa, irgendwann werde ich einmal sehr berühmt sein.“ Als wohlerzogener Drop- out schlägt er sich ins unruhige, neuerwachte downtown-New York der späten Siebziger: ein hellwacher schwarzer Junge, der in einer Band spielt und Graffiti sprüht. So wartet er seine Chance ab, bis sie ihm in Form eines Mediums zufällt. Es ist die Malerei.

Was das Whitney Museum of American Art zeigt, kann sich als Retrospektive sehen lassen, auch wenn die Ausstellung als solche nicht bezeichnet wird. Gesponsert von der Telefongesellschaft AT&T, dem National Committee des Museums selbst und – Madonna, liest sich das Werk Basquiats wie das Gegenbild des fiesen, raffgierigen, golden schimmernden New York der Ära Koch/

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Trump. Es sieht aus, als würde ein „Wilder“, statt mittels Schultafel, an der Leinwand alphabetisiert, die Rahmen sind teils (wie Bahren) mit sich kreuzenden Ecken zusammengezimmert, einfache Farben dominieren, das Animalische tritt in der Verkleidung des Anthropomorphen auf, die grinsenden Köpfe als Amalgam von Totenkopf und Snoopy.

Aber der Schein trügt. Basquiat ist natürlich selbst ein Musterknabe des gierigen New York, und seine augenscheinlich so kruden Gemälde repräsentieren jene Verquickung von Hoch- und Subkultur, Zitat und Erfindung, die die Kunstwelt nochmal an die Kunstwelt hat glauben lassen und somit auch die anderen bis zu den Mitbietern an den Telefonen. Basquiats Rolle in diesem Spiel ist bekannt, und wenn das Whitney sein Werk zeigt, dann in dem Glauben an das Unverletzbare in der Kunst aus der Hand von verletzbaren Künstlern: „Denn jenseits des Promotion-hypes und der Denunziation, die Basquiats genuine Leistung zu vernebeln droht, ist diese Ausstellung eine Gelegenheit, sich außergewöhnliche Kunstwerke anzusehen“, schreibt der Chef des Museums im Vorwort zum Katalog.

Und er hat recht. Basquiats Arbeit ist gerade in der künstlichen Auswahl der Retro überzeugend, deutlich stehen die Übungen neben den Plagiaten, die Verwandlungen neben den Selbstzitaten, die verzweifelten Versuche neben den Meisterwerken, wie dem leuchtend gelben „Onion gum“ von 1983, einem rund vier Quadratmeter messenden Quadrat, in dem es Basquiat gelingt, die Ästhetik der Kritzelzeichnung ohne Verluste auf die Leinwand zu bringen (die Miniatur und ihre Umkehrung gehörte auch zu den Obsessionen der achtziger Jahre). In den Schrifttürmen („ONION GUM/ MAKES YOUR/ MOUTH TASTE/ LIKE ONIONS“) ist die Inspiration durch Cy Twombly zwar sichtbar, aber Basquiats Stärke liegt darin, daß er die Schrift nicht fetischisiert. Die plakettenartige Notierung „Made in Japan“ am Kopf des Bildes macht deutlich, daß das Bild auch für jemanden attraktiv sein könnte, der die Worte überhaupt nicht entziffern kann, vielleicht nicht einmal ihre Leserichtung. Während Basquiats Entschiedenheit, räumliche Sichtweisen gänzlich zu ignorieren, als Markenzeichen von Anbeginn erkennbar war, sieht man jetzt, im Zusammenhang, sein Geschick in der Behandlung der Flächen: Wie er das „Unfertige“ thematisiert, Kleinteiligkeit sorgsam zu einer Struktur baut, und wie sehr ihm die Option des „weißen Bildes“ bewußt ist, der moderne Rückgriff auf das Material, den Malgrund. Das flackernde Helldunkel seiner Bilder ist auch – das zeigen Fotografien im Katalog – bei der Hängung in Clubs und Galerien wirkungsvoll eingesetzt worden und kann vom Whitney mühelos zitiert werden.

Gunst der Stunde

Die Eile, mit der Basquiat Codes erfaßt und seine eigenen Quellen geplündert hat, ist dem Werk durchaus anzusehen, aber gerade der Hauch von Panik hält es zusammen und läßt es homogener erscheinen, als es durch Ungenauigkeiten des Umgangs mit dem Material vielleicht ist. Im Gegensatz zur freundlichen Versponnenheit der deutschen und viel mehr noch der italienischen Neo-Expressionisten spürt man bei Basquiat, daß er die Gunst der Stunde als Mißgunst einer Lebensspanne begreift; jetzt oder nie. Es ist kein Werk, das darauf angelegt ist, in einer Retrospektive zu funktionieren.

Und nach Basquiat, der mit 27 Jahren pünktlich von der Kunst- und Lebensbühne abtrat, können die Museen vielleicht auch nicht mehr im gleichen Maß mit solcherart „hinterlassenen“ Werken rechnen. Schon bei Matisse kommen einem Zweifel, ob das Museum über die einzelnen Arbeiten hinaus die Konzeption des Künstlers von seinem Werk noch faßt – ob sie dort zu repräsentieren ist, wo die Bilder hängen. Ob die Vorstellung des Künstlers von seinem Werk in den Frachtraum des Jumbo Jets paßt.

Das Museum of Modern Art hat für die Scherenschnitte, die im Eßzimmer des Hauses von Matisse installiert waren, einen Raum von der Größe dieses Eßzimmers nachgebaut. Aber es ist dann doch eher eine trübe Passage geworden; und wenn es denn das komplette Eßzimmer wäre, gehörte es dann noch ins Kunstmuseum?

Zum Museum wie Architekten

Eine Ausstellung im Queens Museum of Art hat mir überraschend deutlich vorgeführt, wie weit sich zeitgenössische Künstler von der Idee des autarken Werks entfernt haben: „Fragile Ecologies“ ist nicht einmal eine Rekonstruktion, sondern eine Dokumentation künstlerischer Arbeiten, die dem traditionellen Museumsbesucher zwangsläufig entgehen. Es sind Künstlerinnen und Künstler, die den institutionellen Hebel der Kunst benutzen, um sich in Fragen der Umweltwahrnehmung und -gestaltung einzumischen. Die einfacheren Arbeiten bestehen im Anlegen von Gärten und Parks, die schwierigeren thematisieren die Verschmutzung des Ozeans oder nisten sich in der Städtischen Müllabfuhr als „environment“ ein. Offensichtlich haben sich die Künstler(innen) von der Idee des Sichtbaren weit entfernt und andererseits für ihre Arbeit eine Zweiteilung von Ereignis und Repräsentation hingenommen. Das heißt, ihr Verhältnis zum Museum ist etwa das von Architekten: Die Arbeit kann dokumentiert werden, aber das Original ist immobil oder inexistent.

Betty Beaumont hat für ihr „Ocean Landmark Project“ 17.000 kleine Blöcke aus recycelter Kohlenasche herstellen lassen und 50 Meilen vor New York City in der See versenkt: Dort am Meeresboden, heißt es, sei „die stabilisierte Flugasche nun Teil eines gedeihenden, 50 Meter langen Ökosystems, das von Vegetation und Fischen bevölkert wird“: Die stummsten aller Zeugen kommen in den Genuß des Kunstwerks, an das wir stärker als je zuvor – glauben müssen.

Henri Matisse, Retrospektive. Museum of Modern Art, 11 W 53rd St, New York, NY 10019. Bis zum 12.Januar, Katalog 37,50Dollar. Im Frühjahr in veränderter Form und mit neuem Katalog in Paris.

Jean-Michel Basquiat. Whitney Museum of American Art, 945 Madison Ave, New York, NY 10021. Bis zum 14.Februar. Lesenswerter Katalog, 50Dollar Hardcover, 35Dollar broschiert. Bis Ende des Jahres in der Menil Collection, Houston, dem Des Moines Art Center, Iowa und dem Montgomery Museum of Fine Arts, Alabama.

Fragile Ecologies: Contemporary Artists' Interpretations and Solutions. Vom 6.Februar bis 2.Mai im Whatcom Museum of History and Art, Bellingham, Washington, und bis zum Juli 1994 in San José, Madison (Wisconsin), Lincoln (Massachusetts) und Miami. Lesenswerter Katalog für 24,95Dollar beim Queens Museum of Art, NYC Building, Flushing Meadows, Corona Park, NY 11366-3393.

Die meisten amerikanischen Museen verschicken ihre Kataloge.