„Radioaktivität für die Potenz“

Die türkische Regierung unterdrückte nach dem Tschernobyl-GAU Informationen über Verstrahlung/ Zwölfmal mehr Leukämieerkrankte  ■ Von Ömer Erzeren

„Ich bitte um Entschuldigung“, sagt der ehemalige türkische Industrie- und Handelsminister Cahit Aral kleinlaut. „Wir konnten die türkische Nation nicht schützen.“ Hochgradig radioaktiv verseuchte Lebensmittel waren den TürkInnen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zugemutet worden. Informationen über die Gefahren, die insbesondere von Tee und Haselnüssen aus dem Schwarzmeergebiet ausgingen, unterdrückte die Regierung planmäßig. Jetzt, sechs Jahre später, plaudert der Ex-Minister und Chef des nach der Tschernobyl-Katastrophe ins Leben gerufenen staatlichen Komitees zum Schutz vor Radioaktivität Aral in einem Gespräch mit der türkischen Tageszeitung Milliyet freimütig über die Tage nach dem GAU.

Damals hatten die Regierenden gegen kritische Presseberichte einen regelrechten Propagandafeldzug gestartet, um die Folgen von Tschernobyl unter den Teppich zu kehren. Einen Monat nach dem Unfall verteufelte der Industrieminister diejenigen, die auf die radioaktive Gefahr hinwiesen als „Gottlose“. „Ein bißchen Radioaktivität ist gut für den Körper“, so der Minister. Der damalige Ministerpräsident und jetzige Staatspräsident Turgut Özal riß vor laufenden Fernsehkameras Witze, daß Radioaktivität der männlichen Potenz gut tue. Medienwirksam ließen sich Özal und Aral Tee trinkend von Fotografen ablichten – um zu demonstrieren, wie unbedenklich der Konsum des damals hochgradig verseuchten Genußmittels sei.

Sechs Jahre danach sind die Folgen von Tschernobyl offenkundig. Die Leukämie-Erkrankungen in der Türkei haben sich seither verzwölffacht. „Wir haben alle potentiellen Ursachen überprüft. Der Grund für die Steigerung ist Tschernobyl“, sagt Professor Gündüz Gedikoglu von der Medizinischen Fakultät der Universität Istanbul, der auch einer Stiftung für leukämiekranke Kinder vorsteht. Insbesondere Kinder, die 1986 noch im Mutterleib oder gerade geboren waren, sind heute von der bösartigen Kranheit befallen. Auch die Zahl der Mißgeburten stieg an. Anomalien bei Geburten haben sich in der Schwarzmeerstadt Trabzon seit 1986 vervierfacht, teilte der Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Trabzon, Celal Baki, mit. Noch 1986 hatte Aral behauptet: „Ich gebe meinen Kopf her, falls sich nach 10 Jahren Folgen der Radioaktivität auf Menschen herausstellen sollten.“

Arals freimütiges Bekenntnis hat in der Türkei eine Nachrichtenlawine zum Rollen gebracht, bei der erschreckende Fakten ans Tageslicht kamen. Mit krimineller Energie haben die Verantwortlichen die radioaktive Verseuchung der Bevölkerung in Kauf genommen. Nicht nur wurden die KäuferInnen bewußt hinters Licht geführt: Die staatliche Teefirma, die den verseuchten Tee vertrieb, druckte auf die Packungen, daß es sich um Tee der 1985er Ernte handelte. „Wir stellten bei dem Tee, der normalerweise 40 – 50 Becquerel/kg aufwies, Werte von 50.000 – 60.000 Becquerel/kg fest“ – das Hundertfache des von der Weltgesundheitsorganisation für zulässig erklärten Wertes, gesteht der ehemalige Chef des Institutes für Nuklearwissenschaft an der Universität Izmir, Selman Kinaci. Doch Wissenschaftler, die auf die Gefahren der Radioaktivität hinwiesen, wurden zum Schweigen gebracht. Nach dem Militärputsch 1980 wurden die Universitäten in der Türkei gleichgeschaltet. Ein allmächtiger, von oben eingesetzter Hochschulrat sollte über Lehre und Forschung wachen. Eben dieser Hochschulrat untersagte damals in einer Verfügung an die Rektoren der Universität, Meßwerte bekanntzugeben – ansonsten drohten Disziplinarstrafen. Professoren der Middle East Universität in Ankara wurden vom ehemaligen Chef der türkischen Atombehörde, Ahmet Yüksel Özemre, beim Rektorat verpfiffen, weil sie Meß- und Forschungsergebnisse bekanntgegeben hatten. Heute versucht sich der einstige Chef des Hochschulrates damit herauszureden, daß der Minister ihn damals angewiesen habe. Gewissenlos wurden außerdem Lebensmittel aus der Türkei exportiert, obwohl die Verantwortlichen von der radiaktiven Verseuchung wußten. „Wir haben 4 – 5 Tonnen Haselnüsse mit Werten über 1.000 Becquerel an die Sowjetunion exportiert. Ich bedaure das überhaupt nicht, weil sie schließlich die Verseuchung verursacht hatten“, so Ex-Minister Aral in der Milliyet.

Nach den jüngsten Veröffentlichungen sind Hunderte Strafanträge gegen die Verantwortlichen eingegangen. Der einstige Ministerpräsident und jetzige Staatspräsident Turgut Özal, Ex-Minister Cahit Aral, der einstige Chef der Atombehörde, Yüksel Özemre, und der einstige Chef des Hochschulrates, Dogramaci, stehen dabei im Mittelpunkt. Die Staatsanwaltschaften ermitteln auch gegen Hochschullehrer, die sich damals der Weisung ihres Dienstherren beugten und Forschungsergebnisse verheimlichten.

Weil ein Teil der Beschuldigten Immunität genießt, sind die Dossiers von der Ankaraer Staatsanwaltschaft dem Justizministerium zugeleitet worden. Laut Verfassung könnte selbst gegen den jetzigen Staatspräsidenten Özal vor dem Verfassungsgericht der Prozeß gemacht werden. Noch in diesem Monat wird im Parlament entschieden, ob ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß eingerichtet wird. Doch schon jetzt gilt die Gründung des parlamentarischen Ausschusses als sicher.

Tschernobyl ist für die Regierungskoalition eine Möglichkeit, der damals regierenden „Mutterlandspartei“ eins auszuwischen. Ministerpräsident Demirel sprach von „Verantwortungslosigkeit“ der damaligen Politiker. Sein Verteidigungsminister und sein Erziehungsminister lassen inzwischen prüfen, ob die massenhafte Verteilung von Haselnüssen 1989/90 an Wehrdienstleistende und Schulkinder darauf zurückzuführen ist, daß der Staat die Nüsse wegen radioaktiver Verseuchung nicht ins Ausland verkaufen konnte.

Der Vorstand der türkischen Ärztekammer fordert ihre Mitglieder auf, Strafantrag zu stellen. In dem Schreiben der Ärztekammer wird auch auf das Bekenntnis des Ex-Ministers eingegangen, daß er den Export der verseuchten Haselnüsse an die Sowjetunion nicht bedaure. „Das ist vergleichbar mit der Vergiftung des Trinkwassers in einer Stadt oder mit einem kleineren Atombombenangriff.“ Die Ärztekammer Ankara prüft, ob sie dem Medizin-Professor Dogramaci, einst mächtiger Chef des Hochschulrates, die Approbation entziehen kann.

Ercan Kanar vom Verein für Menschenrechte spricht von einem „Verbrechen gegen die Menschheit“. Für den 16. Januar ist eine Kundgebung in Istanbul angekündigt. Deren Forderung: „Tschernobyl-Verbrecher vor Gericht“, hat inzwischen die Schlagzeilen der türkischen Tagespresse erobert.