Wolkenbügel im Plattenbau

Ortsbesichtigung: Das Literaturcafé Wolkenbügel in der Conrad-Blenkle-Straße  ■ Von Stefan Bruns

Da, wo der Bezirk Prenzlauer Berg an Lichtenberg und Friedrichshain grenzt, beim Sport- und Erholungszentrum an der Leninallee, heute Landsberger Allee, noch „hinter“ dem Stummel jenes Denkmals, dessen Entfernung soviel Staub aufwirbelte, dort ist, überraschend und im Eck eines Plattenbaus von außen kaum zu erkennen: das Literaturcafé Wolkenbügel. Niedergelassen hat es sich in einem abgewickelten Jugendclub, inzwischen ist die Möblierung erneuert, runde Marmortischchen und schwarze Holzstühle; dazu Klappstühle aus Plastik, wenn's voll ist, also oft. Bei Veranstaltungen werden die Metallstores heruntergelassen, um den Verkehrslärm fernzuhalten – was nicht gelingt. Auch das „Sieg Heil!“-Gegröhle der samstagabends herumziehenden Skins dringt durch die Fenster. Schon Normalität?

Die etwa 60 Plätze im Café sind meist gut besetzt. Bei normalem Kneipenbetrieb trifft sich hier ein festes Stammpublikum, vorwiegend jüngere Leute, die ringsum in den Plattenbauten wohnen. Bei Veranstaltungen ist das Publikum gemischter: Auch aus westlichen Bezirken werden viele Besucher von den bekannten Namen, die im Wolkenbügel-Programm auftauchen, angelockt.

Vorne rechts, etwas abseits, steht ein kleiner Tresen, der ein Angebot zu zivilen Preisen bereithält, Kaffee für eine, das Glas trockener Côte du Rhône für drei Mark. Gegenüber führen zwei Stufen auf die Zehn-Quadratmeter- Bühne mit Klavier. In der hinteren Ecke weist ein Buchregal das halbe Volk-und-Welt-Verlagsprogramm auf – von Che Guevara bis Stanislaw Lem – und einen halben Meter „Erkundungen“. Kein Zufall, denn verantwortlich ist hier Ingeborg Quaas. Früher war sie Lektorin bei Volk und Welt. Heute lebt der Literaturbetrieb im Wolkenbügel von ihrem Engagement, ihren Kontakten, die sie von ihrer Verlagszeit her mitgebracht hat. Da betreute sie vor allem schweizerische und österreichische Autoren, und so traten im Wolkenbügel schon Franz Hohler und Friederike Mayröcker, Rolf Hochhuth und Peter Turrini auf.

Gleich nach der Wende, als sich über Volk und Welt der Himmel verdüsterte, begann Ingeborg Quaas ihr neues Projekt. Frei nach El Lissitzky hängte sie einen Bügel in die Wolken, wußte vorher nicht genau, was dabei herauskommt, aber Literatur hautnah an die Leute zu bringen, das sollte es schon sein. Irgendeine Himmelleiter bauen.

Nach einigen Unsicherheiten über die Finanzierung ist das Literaturcafé jetzt gesichert: Es steht mit einer Planstelle im Etat des Kulturamts Prenzlauer Berg. Neben belletristischen Lesungen gab es eine rege besuchte Diskussionsreihe „Licht am Ende des Tunnels“ zur politischen Befindlichkeit nach der Wende, mit Teilnehmern wie Rudolf Bahro und Volker Braun. Eine aktuelle Reihe widmet sich dem Themenbereich Psychologie und Gewalt. Einmal im Monat wird verfilmte Literatur gezeigt, „Malina“, „Homo Faber“ waren zu sehen, zu Weihnachten dann Monty Python. Auch hier wieder: billige Preise (5 bis 2,50 DM), voller Saal. Besondere Werbung ist nicht notwendig, es reicht der Hinweis in den Veranstaltungskalendern der Zeitungen, und die Leute kommen.

Dem trotz des gemischten Programms erhobenen Vorwurf, hier dürften nur Stars auftreten, will Ingeborg Quaas in diesem Jahr monatlich einen „Offenen Abend“ entgegensetzen, an dem lesen darf, der will. Die Initiatorin erwartet dann aber die Bereitschaft, sich dem kritischen Wolkenbügel-Publikum zur Diskussion zu stellen.

Die Literatur bleibt nicht die einzige Kunst im Wolkenbügel. Neben den schon erwähnten Verfilmungen wird gelegentlich auch Kleinkunst angeboten. Mal singt Barbara Thalheim, mal tritt ein Gitarrenduo auf. Im Zusammenhang mit der Reihe zur Psychologie der Gewalt fand am Wochenende eine pantomimisch-musikalische Inszenierung des Kreuzberger Regisseurs D. Atay statt. Auch kleine Ausstellungen – derzeit Fotos von Graffiti aus Paris und Berlin von Alain Hajdu – finden hier einen, wenn auch sehr beschränkten, Platz.

Manchmal allerdings droht bei so vielen verschiedenen Projekten Ingeborg Quaas der laufende Betrieb fast ein wenig über den Kopf zu wachsen. „Wir müssen kürzertreten, sonst kann man nicht mehr sorgfältig vorbereiten.“ Das steht nicht unbedingt im Widerspruch zu den großen Plänen, die Ingeborg Quaas für den Wolkenbügel schmiedet. Es zeigt nur ihre skrupulöse Art, sich mit Literatur zu beschäftigen. Und deshalb kann sie sich über eine gelungene Lesung auch so freuen.

Bei allem Erfolg – der Standort des Cafés Wolkenbügel ist ungesichert. Die Mieter des Hauses beschweren sich über Lärm, vor allem aber wird dem Kunstamt die Miete am jetzigen Ort, in dessen Nähe Olympiabauten geplant sind, zu teuer. Doch käme ein Umzug, der allerdings noch nicht ansteht, Ingeborg Quaas sogar gelegen. Sie hat ambitionierte Vorhaben. Ein reines Lesecafé ist der ehemaligen Lektorin nicht genug. Sie träumt von einer alten Fabrik im Zentrum von Prenzlauer Berg mit einer richtigen Bühne, Galerie, viel Platz und Atmosphäre. Und außerdem will sie dem Café einen Verlag angliedern, in dem sie die vorgestellten Texte in Buchform publizieren will. Angesichts der vielen Manuskripte, die sie auf den Tisch bekommt, erwacht die Lektorin in ihr. „Aus dieser Optik heraus richtig mit den Leuten an ihren Manuskripten arbeiten“, malt sie sich aus. Eigentlich hat sie „nichts anderes im Sinn, als endlich umzuziehen“. Das Literaturcafé Wolkenbügel bliebe, da ist Ingeborg Quaas sich sicher, in jedem Fall erhalten: an einem anderen Ort, aber mit erweiterten Möglichkeiten. Für die Realisierung ihrer engagierten Wolkenbügel-Konzeption ist ihr bei der Suche nach einer anderen Bleibe Erfolg zu wünschen. Für die Südostecke von Prenzlauer Berg jedoch, die an ähnlichen Einrichtungen nicht reich ist, wäre der Wegzug ein Verlust. Stefan Bruns

Das Literaturcafé Wolkenbügel in der Conrad-Blenkle-Straße 1, Ecke Landsberger Allee, Prenzlauer Berg. Mittwochs bis sonntags bis 2 Uhr nachts.