Besuche, die der Krieg erzwungen hat

■ Nach Schätzungen leben rund 13.000 Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Stadt / Viele Menschen, die illegal einreisen, aber eine Duldung erhalten, sind bei Verwandten untergekrochen

Berlin. Vor der Wohnungstür stapeln sich Schuhe auf dem feuerroten Teppich, künstliche und echte Blumen sind liebevoll arrangiert. Auch im Flur, in dem vier Kinderbetten stehen, leuchten die Glühbirnen hinter Plastikblumendekor. Künstliche Blüten zieren Schrankwand, Fensterbank und Fernseher im Wohnzimmer der Zweizimmerwohnung. Auf den beiden Sofas, die nachts zu Besucherbetten umfunktioniert werden, drängen sich abends bis zu 20 Besucher, die mit Kaffee, Schafskäse und Wodka bewirtet werden.

Die Familie Qunai lebt schon seit 18 Jahren in Berlin. „Es verging kein Wochenende, ohne daß wir Besuch bekommen hätten“, lacht die Gastgeberin und zupft an ihren blonden, hochtoupierten Locken. „Der einzige Unterschied ist jetzt, daß die Gäste nun auch hier schlafen.“ Seit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat die Familie ständig Besuch von Verwandten aus dem Kosovo. Anfang letzten Jahres kam ihr Vater, dann der Onkel, und bis vor kurzem wohnte ihr Bruder mit seinen drei kleinen Kindern bei ihr. Das sei etwas schwierig gewesen, erinnert sie sich. „Die Kinder waren gewöhnt, den ganzen Tag draußen zu spielen, hier durften sie keinen Lärm machen und nicht allein auf die Straße.“ Die Älteste besucht jetzt eine Vorschule in Neukölln.

Ihr Cousin Safet Callabq ist eigentlich Lehrer, „aber ich darf schon lange nicht mehr arbeiten. Albanisch ist an den Schulen verboten. Jetzt bin ich geflohen, weil ich nicht auf meine Landsleute und auf Moslems schießen wollte.“ Da er keine Arbeitserlaubnis bekommt, bringt er die Kinder seiner Cousine jeden Morgen zur Schule und holt sie wieder ab, hilft ihnen bei den Hausaufgaben, malt mit ihnen oder geht mit ihnen in den Zoo. Wenn Frau Qunai von der Arbeit kommt, ist die Wohnung sauber und aufgeräumt, ihr Cousin hat die Betten gemacht und eingekauft. Durch seine Verwandten hat Safet auch andere Freundschaften in Berlin geschlossen. „Trotzdem werden die Tage oft lang“, gibt er zu.

Etwa 8.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sind bei Verwandten untergekommen, die übrigen wohnen in Heimen oder in Obdachlosenunterkünften. Insgesamt haben sich im letzten Jahr etwa 13.000 bei der Außenstelle der Ausländerbehörde am Waterloo-Ufer gemeldet, die Asylbewerber nicht mitgerechnet. „Und es werden immer mehr, täglich kommen etwa 180 her“, schätzt einer der rund um die Uhr wachhabenden Wachpolizisten.

Die meisten genießen eine Duldung. „Eigentlich könnten sie jederzeit abgeschoben werden. Formal betrachtet ist schon die Einreise von Menschen aus Bosnien illegal, wenn sie kein Visum oder keine Einladung mit Unterhaltsgarantie haben. Doch aus humanitären Gründen werden sie geduldet“, erläutert Bernd Krizcik, Sprecher der Innenverwaltung. Andere beantragen in der Bundesrepublik Asyl. Nur die Flüchtlinge, die im Sommer im Rahmen eines Sonderkontingents kamen, das die Bundesregierung sich aufzunehmen entschlossen hatte, haben eine Aufenthaltsbefugnis.

In den für die 216 Berliner Kontingentflüchtlinge eingerichteten vier Wohncontainern in Weißensee wohnen mittlerweile 285 Flüchtlinge. „Wir sind längst voll, wenn aber Familien zusammengeführt werden können, verdichten wir weiter“, sagt Heimleiter Dietrich Sievert.

Midhet Zulic teilt sich seit einem Monat mit seiner Mutter, seinem neunjährigen Bruder und seinem Cousin eine winzige Containerzelle. Mühsam überwindet der junge Mann den halben Meter zwischen Bett und Stuhl. Während er sitzt, vermeidet er jede heftige Bewegung. „Das sind noch die Folgen von den Schlägen im Lager, sie benutzten immer eine Eisenstange, dicker als das Rohr hier“, sagt er leise und zeigt auf die Stangen seines Bettgestells. „Nierenentzündung, hat der Arzt gesagt.“ Fünf Monate verbrachte er in Omorska, einem ehemaligen Bergwerk in der Nähe der bosnischen Stadt Prijedor. „300 Männer waren in einem gekachelten Raum von 50 Quadratmetern zusammengepfercht. Nacht für Nacht holten die Tschetniks 40 bis 50 Leute, die am nächsten Morgen völlig zerschunden wiederkamen — oder gar nicht. Dafür kamen ständig Neue.“ Er spricht tonlos, manchmal bricht seine Stimme, und er verharrt einen Augenblick reglos, die Hand über den grünbraunen Augen, bevor er weitererzählt — von der Folter durch Feuer, dem Polizeichef, dessen abgeschlagenen Kopf die Tschetniks durch das Dorf trugen, von den regelmäßigen Vergewaltigungen in einem der Durchgangslager. Das Rote Kreuz holte ihn heraus.

„Ich bin froh, hier zu sein, mein Leben ist gerettet. Aber es ist schwer, sich psychisch zu erholen“, sagt Midhet. Jede Nacht versetzen ihn Alpträume zurück nach Omorska. Wenn er gegen Morgen endlich in Tiefschlaf fällt, steht sein Bruder auf, um in die Schule zu gehen. Die kleineren Kinder fangen an, auf dem Flur Rad zu fahren oder Nachlaufen zu spielen und stolpern über die Schuhe, die vor allen Zimmertüren im Gang stehen. Familien schwatzen im Flur auf dem Weg in die Gemeinschaftsküchen, immer dudelt ein Transistorradio.

Es gefalle ihm schon ganz gut hier, zögert der 15jährige Josmin Mumotonic, aber „es ist schlimm, daß ich allein bin“. Er kam vor fünf Monaten mit einem der ersten Konvois und besucht die Vorschule. „Ich wurde an der Front von einem verwundet, da haben mich die Erwachsenen weggejagt“, sagt der stämmige Junge mit dem erschreckend erwachsenen Gesicht. Stolz erzählt er, wie sie das bosnische Derventa drei Wochen lang verteidigt hätten. „Wir haben nicht verloren, wir wurden verraten.“ Sein Vater liegt verwundet in Kroatien, von seiner Mutter und seiner Schwester hat er nichts mehr gehört seit fünf Monaten. „Wie soll ich wissen, ob sie mir fehlen, wenn ich nicht einmal weiß, ob sie noch leben?“ fragt er hilflos.

„Die Menschen, die hier herkommen, haben Schreckliches gesehen und erlebt“, sagt Bosiljka Schedlich, Leiterin des Süd-Ost- Europa-Kultur-Vereins. „Hier können sie Ruhe finden.“ Der Verein entstand vor einem Jahr, als der Krieg auch zu Spannungen unter den hier lebenden Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien führte. „Wir wollten Begegnungen schaffen, dem Haß entgegenwirken und den Blick für die Zukunft öffnen, ohne zu verdrängen, was gerade passiert“, sagt Schedlich. Neben Beratungen, Lesungen, Konzerten und Informationsveranstaltungen wolle der Verein die Menschen vor allem in ihren eigenen Ideen unterstützen. „Sie sollen ihre Sprache und Kultur so ausüben können, wie sie es wünschen. Schließlich ist der Balkan die kulturelle Wiege Europas.“

Mehrere Musikgruppen haben sich gefunden, mittwochs trifft sich eine Gruppe kroatischer, türkischer, serbischer, bosnischer und deutscher Mädchen, um internationale Volkstänze zu lernen. Eine Theatergruppe entwickelt ein Stück zum Thema Asyl. Besonders glücklich ist Schedlich über die „Künstlerwerkstatt Süd-Ost“. In dem hellen Raum liegt ein rotes Plüschkrokodil neben einer ausgedrückten Tube mit Ölfarbe und einer Palette auf einem Kinderhocker. Zwischen Bauklötzen und Luftschlangen stehen halbfertige Gemälde auf den Staffeleien. „Das war eigentlich unsere Kinderstube“, lacht sie. Einige Künstler, die in ihren Heimen keine Ruhe und keinen Platz zum Malen hatten, nutzten den Raum zunächst außerhalb der Spielzeiten. „Mittlerweile sind sie bei den Kindern voll integriert.“

„Ich wollte den Zerfall der Welt malen und zeigen, was uns in diesen Irrsinn geführt hat“, sagt Dario Suk zu seinen hier entstandenen Bildern. In grellen Temperafarben gemalte Fratzen und krakengestaltige Ungeheuer verkrallen sich ineinander, Gesichter scheinen vor Angst zu zerfließen. „Das sind meine Eindrücke aus Berlin. Berlin ist wie ein Lager. Wir sind nicht frei, zu kommen und zu gehen, wie wir wollen.“

In dem karg möblierten Aufenthaltsraum der ehemligen Zahnklinik im Scheunenviertel läuft der Fernseher heute abend nicht. Minka I. zeigt ihren Mitbewohnern andere Bilder: Eine Schar Kinder sitzt auf der Terrasse eines zweistöckigen Hauses und löffelt begeistert eine zuckergußverzierte Geburtstagstorte. Auf der nächsten Seite des Albums strahlt die blonde Frau selbst mit ihrem Mann vom Sofa, hinter ihnen geben die blumengeschmückten Fenster den Blick auf Rasen und Obstbäume frei. „Mein Mann ist nicht rausgekommen, die Männer lassen sie gar nicht mehr über die Grenze.“ In Minkas Gesicht haben die letzten Monate tiefe Spuren hinterlassen. Sie will nicht mehr zurück. „Von dem Haus steht heute kein Stein mehr auf dem anderen, meine Verwandten sind fast alle ermordet, ich habe dort keine Heimat mehr.“ Eine andere widerspricht: „Mit dem ersten Zug fahre ich zurück, wenn dort wieder Frieden ist.“ Natürlich sei sie froh, hier zu sein, aber hier könne sie doch nur schlafen, Kaffee trinken und spazierengehen, „ich werde immer dicker“. Ein junger Mann stimmt ihr zu. „Und Heimat ist Heimat, nicht?“ Corinna Raupach