Camouflage des Plaudertons

Jenseits von Fulbright: Frühe Erzählungen von Sylvia Plath, neu übersetzt  ■ Von Mirjam Schaub

Die Giraffe ist ein Tier der Savanne, mit einem Herz dreimal so groß und kräftig wie das des Menschen. Ohne ein solches Herz würde das Blut ihr Gehirn nie erreichen – auf dem Weg durch den langen, muskulären Hals. Wer die dunkelbraun gefleckten Huftiere mit dem einsamen Überblick über die Zoogatter kennt und ihnen dabei zusieht, wie sie die letzten Blätter von den Baumkronen klauben, ist dem Dilemma der Literatur von Sylvia Plath schon gefährlich nahe gekommen.

1932 im Staat Massachusetts, USA, geboren, wurde die junge Amerikanerin schon bald zur „Savannenbewohnerin“: klug und damit einsam wie kein Mädchen ihres Jahrgangs, verachtete es Sylvia Plath, das Leben einer Hochbegabten zu führen, der man die Auszeichnungen und Stipendien (zwei Jahre Fulbright in Cambridge) nur so in den Blusenausschnitt schob. Die Gespräche der wohlerzogenen Erwachsenen deprimierten sie. Sylvia Plath wollte nicht zum Kreis derer gehören, die „die große Leere der Welt mit Vier-Uhr-Tees, Plätzchen und klebrig-süßer Pastete aus Zitronenquark und Marzipan flickten“. Mit 20 Jahren versuchte Plath, sich das Leben zu nehmen; eine Erfahrung, die sie später in ihrem Roman „Die Glasglocke“ verarbeitete – wie man so sagt.

Wer Sylvia Plath liest, wird sich bald in gnadenlosen Kurzcharakteristiken („der mit den Raspelhänden“ oder „der mit dem plumpen Puttenfuß“) anderer wiederfinden, die umstandslos zu friedlicher Naturbeschreibung oder gellender Selbstbezichtigung/-überschätzung der Erzählerin permutieren. Unter der Camouflage des Plaudertons leisten sich Plaths Texte Distanz zu der Wohlfeilheit von Integrationswillen, Erfolgsgewißheit und Etikette der prosperierenden amerikanischen Gesellschaft der Nachkriegszeit. (Letzteres begründet vermutlich Plaths späteren Erfolg in Europa.)

Die Zunahme dieser Distanz, aber auch die Tragikomik einer, der gleichsam mit der Zeit ein Giraffenhals und ein starkes Herz wachsen, ist in Sylvia Plaths literarischem Werk nirgends manifester als in dem neu ins Deutsche übersetzten Erzählband „Das Wunschkästchen“. Hier werden in chronologischer Reihenfolge fünf Erzählungen aus den Jahren 1956 bis 1958 vorgestellt, die erst Ende der siebziger Jahre in England erschienen und in Deutschland bisher in den Seiten zweier Bücher untergegangen sind. Nun liegen sie in neuen Übersetzungen von Julia Bachstein und Susanne Levin vor.

Alle fünf Geschichten des „Wunschkästchens“ kreisen um das blühende Leben, wie es von Anfang an für das Glück verloren ist und sich klaustrophobisch zusammenzieht; und um den Tod, der in der doppelgesichtigen Fratze aus Normalität und Spiritualität Erlösung verheißt. Wiederkehrende Frauennamen (Agnes, Esther oder Dody) durchziehen die Erzählungen, werden in Nebensätzen von Unbedarften denunziert und vereinen sich zuletzt zu dem einen Ich bin (Bin ich das?), das Sylvia Plath vor allem anderen mit Zweifel belegt.

Es wäre leichtfertig, aus dem Ringen um diesen imaginären (und wahrscheinlich verlorenen) Fixpunkt allein die Autobiographie einer Manisch-Depressiven zu konstruieren. In der titelgebenden Erzählung „Das Wunschkästchen“ leistet Plath – im Handstreich, wie es scheint – am Beispiel der Schlaflosigkeit gerade die Überschreitung von empirischem Krankheitsbefund und analytischer Selbstheilungskraft:

Agnes Higgins ist nämlich die Ehefrau eines höchst einfallsreichen und von guten Träumen gesegneten Ehemanns („Ich begann das Es-Dur-Klavierkonzert von Beethoven zu spielen“, erklärte er schlaftrunken.) Da Harold seine Träume als sein reales, künstlerisches Eigentum betrachtet, glaubt Agnes dazu in Konkurrenz treten zu müssen. Doch in Wahrheit träumt sie gar nichts. Harold diagnostiziert sogleich Mangel an Phantasie. Er bittet sie, sich einen Becher vorzustellen. Agnes gerät in Panik und sieht „nichts, außer so Lichtflecken“. Schließlich lügt sie sich einen Silberbecher mit Rentier-Gravur zusammen. Was sich bei Harold „wie auf einer Kinoleinwand, direkt vor den Augenlidern“ abspielt, sieht Agnes, wie „alles, ganz hinten im Kopf“. Ihr überwaches, fiebriges Bewußtsein weiß keinen Fluchtpunkt, nicht ein imaginäres Bild vor der Übermacht der realen Gegenstände, die sie umgeben. Sie ist dazu verdammt, mit ihrem Auge, dieser „offenen Photolinse“, zu registrieren, was ist, wie es ist. Und damit man sich mit diesem Satz nicht vertut, setzt Sylvia Plath dreimal gewendet mit Gertrude Stein nach: „,Eine Rose‘ hörte sie sich leer wie eine Totenklage wiederholen, ,ist eine Rose ist eine Rose...‘.“ Die Totenstille in Agnes' Kopf hört erst auf, als Harold sie neben einer leeren Schachtel Schlaftabletten findet. „Auf ihrem Gesicht lag ein feines heimliches Lächeln des Triumphes...“

Verglichen mit beispielsweise Djuna Barnes ist Sylvia Plath natürlich eine traditionelle Erzählerin. Das zeigt sich vor allem in dem Willen, für jede Erzählung einen sinnstiftenden Schluß zu finden, der den kleinsten gemeinsamen Nenner von Autorinnenwille und LeserInnenwunsch aushandelt. Aber analog dazu, wie sich in den drei Jahren (die über ihrem Schreiben ins Land gingen) der Tonfall von Erzählung zu Erzählung festigt und der vorwurfsvolle Unterton eines Collegegirls zum Buster- Keaton-Blick einer Frau wird, verändert sich die Struktur der Schlußpassagen.

In der letzten, 1958 entstandenen Erzählung „Johnny Panic und die Bibel der Träume“ – dem dichtesten dieser Texte – gibt es kein versöhnlich-komisches Ende mehr. Noch unter den blauzüngigen Blitzen der Elektroschockbehandlung huldigt die Ich-Erzählerin, eine „Assistenzsekretärin in der Erwachsenenpsychiatrie“, dem Fluchtpunkt ihres Wahns: Johnny Panic, ihrem Todesengel, für den sie aus den Anamnesen der Kranken eine Bibel der Träume schreibt. Sie sagt: „Seine Liebe ist der Sprung aus dem zwanzigsten Stock, ist der Strick um den Hals, ist das Messer auf dem Weg zum Herzen. Er vergißt die Seinen nicht.“

So perfekt wie die 30jährige Sylvia Plath selbst, an jenem winterlichen 11.Februar 1963 in London, als sie zwei Milchschälchen vor die Betten ihrer kleinen Kinder stellt und die Türritzen mit Kreppapier und nassen Tüchern abdichtet, bevor sie im Nebenzimmer für sich den Gashahn aufdreht.

Sylvia Plath: „Das Wunschkästchen. Erzählungen 1956 bis 1958“. Aus dem Amerikanischen von Julia Bachstein und Susanne Levin. Frankfurter Verlagsanstalt, 120 Seiten, ca. 22DM