■ Die Gatt-Debatte stößt auf wenig Interesse – zu Unrecht!
: Ein Bollwerk gegen Nationalismus

Mit dem Amtsantritt Bill Clintons am 20. Januar werden die Konflikte und Verhandlungen über Handelsfragen zwischen Japan, USA und der EG an Heftigkeit zunehmen. Die Debatte um das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) scheint die Friedensbewegung und die grün- alternative Szene bisher nichts anzugehen. Keine politischen Forderungen, keine breite Kontroverse. Funkstille. Am 23. November lieferte Andreas Zumach in einem Kommentar der taz die Gründe für dieses Desinteresse: Das Gatt sei eine Institution des Kapitalismus, führe zur Ausbeutung der Dritten Welt und sei mitverantwortlich für die weltweiten ökologischen Zerstörungen, noch dazu gefährde es die Lebensgrundlagen der europäischen Landwirtschaft. Die EG- Bauern seien in ihrem Widerstand gegen die Gatt-Vereinbarungen die revolutionäre Speerspitze des Kampfes gegen den Weltkapitalismus.

Soweit der Standpunkt von Andreas Zumach. Einzige Reaktion der taz-Leserschaft: ein kleiner Leserbrief, in dem der Standpunkt noch mal ausdrücklich begrüßt und bestätigt wurde.

Dieses Desinteresse ist bedauerlich. Denn es gibt kaum ein Thema, das die Welt und die Bedingungen aller auf ihr lebenden Menschen stärker und nachhaltiger beeinflussen könnte; essentielle Politik- und Interessenbereiche der Grün-Alternativen und der Friedensbewegung sind dabei nicht ausgenommen. Drei davon seien hier erwähnt, die auch erklären, warum Ökologie, Dritte Welt und Friedensbewegung sich für einen Erfolg der Gatt-Verhandlungen einsetzen sollten.

1. Bei den politischen Auseinandersetzungen um Asylrecht und Rechtsradikalismus werden laufend Vergleiche zwischen 1933 und 1992 gezogen. Ein wichtiger Unterschied wird in der alternativen friedenspolitischen Argumentation dabei nicht erwähnt: Der Entwicklung des Faschismus in Europa ging der Zusammenbruch des Welthandels voraus, der mit einem allgemeinen Handelskrieg und der durch handels- und währungspolitischen Protektionismus bedingten gegenseitigen Abschottung aller kapitalistischen Volkswirtschaften voneinander einherging. Zu dumpfer Fremdenfeindlichkeit und offenem Antisemitismus im Volk gesellte sich der Wirtschaftsnationalismus der Großindustrie, die sich – jeder Aussicht auf Auslandsgeschäfte beraubt – ganz und gar auf die Alleinbeherrschung der eigenen Wirtschaftsräume zurückzog und die militärische Expansion derselben auf die Tagesordnung setzte. Und erst das gab dem Nationalsozialismus im Grunde seine explosive Wirkungskraft.

Ganz anders die Situation heute. Trotz aller beklemmenden Gefühle und Unsicherheiten hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung des Nationalismus in Deutschland weiß man doch: die deutsche Großindustrie ist eng mit dem Weltmarkt verflochten, und ein Rückzug aus diesen ausländischen Märkten wäre gleichbedeutend mit ihrem Ruin und dem Verlust ihrer starken Stellung. Bei aller kulturell tradierten Gegnerschaft zur kapitalistischen Ordnung sollten ideologisch bedingte Pauschalisierungen in der Art „der Weltmarkt ist des Teufels“ doch vermieden werden. Denn würden unter den „revolutionären“ Angriffen der Bauern die Gatt-Verhandlungen scheitern, dann würde der Handelskrieg eskalieren, und somit würde ein wichtiger, den Nationalismus eindämmender und hemmender Faktor wegbrechen.

Wer gegen Gatt und offene Märkte anstreitet, sollte sich die Frage stellen, welche sozialen und politischen Konsequenzen sich daraus ergeben könnten. Ich bin mir sicher, daß nach einem Zusammenbruch des freien Handels keineswegs eine solidarische und ökologische Weltwirtschaft ausbrechen würde, sondern tatsächlich ein Rückfall in die 30er Jahre droht.

2. Wer heute den Protektionismus der EG-Bauern unterstützt, müßte eigentlich wissen, daß er damit in diametralem Gegensatz zu wesentlichen Interessen der Dritten Welt gerät. Ein Handelskrieg der drei mächtigsten Wirtschaftsblöcke untereinander hätte eine Rekolonisierung der Dritten Welt, ihre Einordnung in jeweils einen der Großblöcke sowie den Verlust jeglicher eigener Spielräume zur Folge.

Schon der bestehende Protektionismus der Industrienationen trifft in der Hauptsache die Entwicklungsländer. Die Handelsliberalisierung der letzten Dekaden im Rahmen des Gatt bezog sich auf den Bereich der industriellen Waren, die die großen und mächtigen Industrienationen untereinander austauschen. Die Produkte, bei denen die Entwicklungsländer international wettbewerbsfähig sind oder werden können, wurden von den Liberalisierungsschüben im wesentlichen ausgeschlossen: In erster Linie ist da der ganze Agrarbereich zu nennen, hinzu kommen auch Bereiche wie die Textilindustrie, bei denen die Industrieländer ihre Märkte durch allerlei Maßnahmen und Tricks von den billigen Angeboten aus der Dritten Welt freihalten. Allein der Textilprotektionismus der Industrieländer bringt die Entwicklungsländer um 24 Milliarden Dollar Exporteinnahmen jährlich, rund die Hälfte dessen, was sie an Entwicklungshilfe bekommen.

Was die europäischen Bauern heute auf der Straße verteidigen, sind die staatlichen Subventionen, mit denen die EG-Landwirtschaft auf allen internationalen Märkten zu Dumpingpreisen weit unter den Produktionskosten arbeiten kann: So wurde ein Kilo EG-Fleisch in den letzten Jahren für nur 90 Pfennige in Brasilien verkauft. Die Bemühungen um eine regionale Wirtschaftsintegration in Südamerika leiden schon seit Jahren unter diesem unlauteren Wettbewerb aus dem Norden, der die Integrationspartner zu Vertragsbruch verleitet und Zwietracht sät.

3. Die Ökologen sind der Versuchung ausgesetzt, Umweltpolitik mit dem Instrument pauschaler Handelsrestriktionen betreiben zu wollen. National abgeschlossene Ökonomien haben wir in den letzten Dekaden sowohl in Osteuropa als auch in Lateinamerika erlebt. Solche Entwicklungswege sind nicht nur ökonomisch gescheitert, sondern haben auch ökologisch verheerende Auswirkungen gehabt. Eine pauschale Ablehnung des Freihandels ist ebenso unangebracht wie dessen pauschale Apologie. Die Apologeten sehen nicht die Auswüchse des Freihandels: z.B. riesige Transportwege verbunden mit hohen Energiekosten. Statt einer pauschalen Ablehnung des Weltmarktes müßten die Transport- und Energiepreise durch Steuern und andere Maßnahmen drastisch erhöht werden, damit die Preise Ausdruck der ökologischen Wahrheit sind, wie Ernst-Ulrich von Weizsäcker es im nationalen Rahmen vorschlägt.

In der ehemaligen DDR, in Osteuropa und in vielen Entwicklungsländern erleben wir im Augenblick gerade einen weiteren Auswuchs des Freihandels bzw. seine Apologie. Denn dort zerstört die plötzliche Öffnung zum Weltmarkt vorhandene humane und technische Produktivpotentiale. Dagegen wären zeitlich begrenzte Zollbarrieren als entwicklungs- und industriepolitische Steuerung angebracht, um die Anpassung und Behauptung auf dem internationalen Markt zu ermöglichen.

Die ideologisierende Ablehnung des Freihandels hilft nicht weiter. Statt dessen sollte die schrittweise Internationalisierung sozial-, entwicklungs- und umweltpolitischer Kriterien und ihre Inkorporierung in das Gatt-System erreicht werden. Ein massiver Rücktritt hinter den Freihandel der letzten 40 Jahre wäre ein Rückfall in die Barbarei. Leopoldo Mármora

Der Autor ist politikwissenschaftlicher Referent an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg.