Albanische Vergangenheitsbewältigung

■ Nexhmija Hoxha, die Witwe des ehemaligen Parteichefs Enver Hoxha, steht in Tirana wegen der "Anordnung zur Erschießung" und Veruntreuung von 150.000 Mark vor Gericht

Wien (taz) – Der Gerichtssaal war ungeheizt. Die Richter saßen in Wintermänteln hinter ihrem Pult. Die beiden Angeklagten zitterten vor Kälte. Seit letzten Freitag müssen sich Nexhmija Hoxha, die 71jährige Witwe des 1985 verstorbenen kommunistischen Parteichefs Enver Hoxha, und Kino Buxheli, der ehemalige Leiter des Versorgungsamtes des Parteiführung, vor Gericht wegen „Anordnung zur standrechtlichen Erschießung“ verantworten. Ähnlich wie in der ehemaligen DDR gab es auch in Albanien einen Schießbefehl an der Grenze, dem im Laufe der realsozialistischen Herrschaft zwischen zweitausend und fünftausend Menschen zum Opfer fielen.

Doch nicht nur im Falle von „Republikflucht“ machten die Sicherheitsorgane schnell von der Schußwaffe Gebrauch. So sollen 1990 an die hundert Personen bei „illegalen Demonstrationen“ und „Geschäftsplünderungen“ ums Leben gekommen sein. Einsatzbefehle, die Hoxha und Buxheli nun damit begründeten, „daß sie die wahre Lehre des Sozialismus mit allen Mitteln gegen Staatsfeinde verteidigen wollten“. Außerdem, so die „graue Eminenz“ Hoxha, habe sie im Einklang mit den damaligen Gesetzen gehandelt.

Der Prozeß gegen die beiden Spitzenpolitiker ist in Albanien heftig umstritten. Seit Wochen beherrscht die Frage, ob durch einen Prozeß gegen die ehemalige Herrscherclique die grausame Vergangenheit aufgearbeitet werden könne oder ob es sich nur um einen Schauprozeß handle, die innenpolitische Diskussion; Hunderte AlbanerInnen demonstrierten am Freitag vor dem Gerichtsgebäude. Quer durch die großen politischen Parteien geht der Streit, denn in keinem anderen Land des ehemaligen „Ostblocks“ war die Repression, aber auch die Verstrickung und Mittäterschaft so groß wie in dem kleinen Balkanstaat.

Während sich die meisten Staaten Osteuropas spätestens seit Mitte der achtziger Jahre in Reformen versuchten, war in Albanien selbst Stalin unantastbar, war jeder Privatbesitz verboten. Selbst Fahrräder wurden zugeteilt, der Staat bestimmte, wann jemand heiraten durfte, wo man wohnen und arbeiten konnte. Doch die, die diese Entscheidungen trafen, lebten getrennt von der Bevölkerung, in einer eigenen Stadt.

Wer als einfacher Bürger in den verbotenen „Block“, wie die Siedlung der oberen Hundert im Volksmund genannt wurde, zu gelangen versuchte, konnte damit rechnen, erschossen zu werden. Selbst der geringste Protest gegen das Regime wurde mit jahrelangen Haftstrafen beantwortet, in manchen Fällen büßten die Kinder in einer Art Sippenhaft für die „Verbrechen“ ihrer Eltern.

Der Prozeß gilt als Auftakt einer Generalabrechnung mit diesem „Block“. Alle ehemaligen Spitzenfunktionäre sollen zumindest wegen „Bereicherung“ belangt werden. Hierauf steht selbst im demokratischen Albanien „in schweren Fällen“ die Todesstrafe. Hoxha wird vorgeworfen, in den letzten zehn Jahren insgesamt 764.000 Lek an Staatsgeldern „zum persönlichen Luxus“ – für die neueste Haute Couture aus Paris, für einen Ferienaufenthalt in der Karibik – verbraucht zu haben. Die – umgerechnet – 150.000 Mark entsprechen 300 Jahreslöhnen eines Facharbeiters.

Ein offenes Geheimnis ist es mittlerweile, von wem die bisher geheimen Dokumente über den Schießbefehl und die „Buchführung“ über die „Bereicherung auf Kosten des Volkes“ dem Gericht zugespielt wurden. Von Ramiz Alia, einst Enver Hoxhas Liebling und nach dessen Tod mächtigster Mann Albaniens. Seine Biographie „Ich, Ramiz Alia“ wird seit Wochen als Bestseller gehandelt, seine Darstellung als bare Münze genommen. Da behauptet doch der Altkommunist Alia, die „Hoxha-Sippe“ habe schon 1947 dem Druck Jugoslawiens nachgegeben und sei bereit gewesen, Albanien als neunte Provinz an den Tito-Staat anzuschließen. Dies habe nur Stalin zu verhindern gewußt.

Die Stoßrichtung dabei: die Genossen Hoxhas seien keine wahren Patrioten gewesen, es sei ihnen nur um die persönliche Machtbereicherung begangen.

Wer ist ein Patriot? Eine Frage, die derzeit in Albanien angesichts der jugoslawischen Krise heftig diskutiert wird. Die vorherrschende Meinung in den Medien dazu: Hätte Albanien schon vor Jahrzehnten den Sozialismus abgeschüttelt und sich Westeuropa geöffnet, so wäre es heute ein modernes Land und nicht das wirschaftliche Armenhaus des Kontinents. Auch in dieser Frage der „nationalen Unachtsamkeit“ will das Gericht die Spitzenfunktionäre des alten Regimes belangen.

Die Gefahr, daß alle Anklagepunkte bereits in diesem Prozeß zur Farce verkommen werden, ist jedoch groß. Denn selbst die Parteiführer der demokratischen Parteien waren mit den Hoxhas persönlich eng verflochten. Der heutige Staatspräsident Albaniens, Sali Berisha, wirkte als Hausarzt, Ismail Kadaré, ein Schriftsteller, der mehrmals als Kandidat des Literatur-Nobelpreises gehandelt wurde, fungierte als persönlicher Berater von Nexhmije Hoxha. Doch weder Berisha noch Kadaré wagten es damals, ihren Ziehvätern und Ziehmüttern zu widersprechen. Jetzt treten sie jedoch als Hauptfürsprecher auf, „alle aus dem ehemaligen Block“, so Berisha, „gerecht für ihre Verbrechen zu bestrafen“. Eine Gerechtigkeit, an die nur wenige Menschen in Albanien glauben. Karl Gersuny