Bekämpfung der Armut ohne Geld

■ Brasiliens neuer Regierungschef Franco will vor allem Sozialpolitik machen und hofft, so die Wirtschaft anzukurbeln

Rio de Janeiro (taz) – Brasiliens neues Staatsoberhaupt Itamar Franco steht vor einem Scherbenhaufen. In den letzten 30 Monaten ist das Bruttosozialprodukt des Landes um knapp vier Prozent gesunken und der Lebensstandard der Brasilianer hat sich erheblich verschlechtert.

Nachdem der brasilianische Kongreß Ex-Präsident Fernando Collor in die Provinz nach Alagoas im Nordosten des Landes zurückgeschickt hat, verhandelt Itamar Franco nun eifrig mit allen Fraktionen im Parlament. Im Gegensatz zu Collor steht bei Franco nicht die Beseitigung der Inflation, sondern die Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit an erster Stelle. Wirtschaftsminister Paulo Haddad will dieses Jahr vier Milliarden Dollar für Sozialwohnungen und Straßenbau ausgeben. Neben der Bauwirtschaft soll auch der Export gefördert werden. Davon verspricht sich die Regierung ein Wirtschaftswachstum von vier Prozent und etwa zwei Millionen neue Arbeitsplätze.

Daß die Wirtschaft wieder angekurbelt werden muß, darüber sind sich alle – Unternehmer, Gewerkschaften sowie Regierungsvertreter – einig. Doch der Weg aus der fatalen Kombination von Rezession und Inflation, genannt Stagflation, ist umstritten. Die Financial Times kritisierte dieser Tage die Prioritätenliste von Itamar Franco. Nicht Arbeitslosigkeit und Armut, sondern die Steuer- und Finanzreform sei die Grundlage eines Wiederaufschwungs.

In der Tat: Solange die Regierung ihre zusätzlich benötigten Einnahmen nicht aus Steuergeldern bezieht, sondern sich von einer Anleihe zur nächsten hangelt, ist für Investitionen im sozialen Bereich kaum Geld da. Leere Kassen beschleunigen die Inflationsspirale, die Zinsen steigen auf absurde Höhen und die Bevölkerung muß den Verlust jeden Monat mit schrumpfenden Löhnen ausgleichen. Denn was nützt es, wenn die Wirtschaft künstlich belebt wird, doch das Wachstum von der Inflation wieder aufgefressen wird? Und was nützt Wachstum, wenn nicht gleichzeitig eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung damit einhergeht?

Genau um diese Punkte geht es bei der Steuer- und Finanzreform, die zur Zeit dem Kongreß zur Abstimmung vorliegt. Itamar Franco, durch die Aufdeckung des Korruptionsskandals von Ex-Präsident Collor an die Macht gekommen, hat alle Chancen, die Mehrheit der Abgeordneten für sich zu gewinnen. Wenn er durch mangelndes Verhandlungsgeschick diese historische Gelegenheit für einschneidende Veränderungen innerhalb der brasilianischen Gesellschaft aber verpaßt, droht das Land, bis vor kurzem achtgrößte Industrienation der Welt, auf Platz zehn, und damit hinter China, abzurutschen.

In der Arbeiterpartei (PT) stößt der Kurs der nationalen Versöhnung Itamar Francos bereits teilweise auf Kritik. Abgeordneter Vladimir Palmeira hält einen Sozialpakt mit den Sektoren, die von der Inflation profitieren, für unmöglich. „Die Produktion ist gesunken, und mit ihnen die Löhne. Doch der Profit der Banken und Kartelle ist gestiegen. In jedem zivilisierten Land gehören Profit und Wirtschaftswachstum zusammen. In Brasilien nicht.“ Nach Palmeiras Ansicht vernachlässigt Francos Vorhaben diese Interessensunterschiede. „Es ist eine Illusion zu glauben, daß alle gegen Inflation und Rezession sind.“ Astrid Prange