Schicksalsreport im U-Bahn-Tunnel

Statt wortlos die Hand aufzuhalten, wird in Berliner U-Bahnen mit der Lebensgeschichte hausieren gegangen/ Junkies, HIV-Positive und Obdachlose konfrontieren Fahrgäste mit ihrem Elend  ■ Aus Berlin Michaela Schießl

Heinz steigt immer ganz hinten ein. Gleich bei der ersten Haltestange bleibt er stehen, möglichst unauffällig, und wartet auf das „Zuurücktreten, bitte“ der Bahnsteigswärterin. Hart schnappen die Türen zu. Die Bahn fährt an. Nun kann ihm keiner mehr entkommen. Für Heinz beginnt die Arbeit. Er drängt sich in die Mitte, ganz am Anfang des Ganges, räuspert sich einmal kurz und legt los. „Guten Tag meine Damen und Herren, entschuldigen Sie die Störung. Ich bin HIV-positiv und habe nur noch ein bis eineinhalb Jahre zu leben.“

Einige Fahrgäste entschuldigen die Störung deutlich sichtbar nicht. Sie verschließen ihr Gesicht so kompromißlos, wie sich zuvor die verdammten U-Bahn-Türen geschlossen und sie, die Ärmsten, zu Geiseln von Heinz gemacht haben. Kiefer rasten übellaunig in Sturheitshaltung, gut ein Drittel der Waggonbesatzung scheint jenseits der Fenster auf einmal hochinteressante Höhlenzeichnungen an der Tunnelwand entdeckt zu haben. Köpfe schieben sich noch tiefer in Zeitungen. Heinz kennt diese Typen und schreibt sie ab. Für ihn zählen nur diejenigen, die ihn wahrnehmen.

„Meine Eltern haben sich von mir losgesagt, weil sie Angst haben, sich anzustecken. Aufgrund meiner Krankheit habe ich meinen Job und meine Wohnung verloren.“ Im Stakkato hackt er seine Geschichte runter. Zeit ist Geld, auch für Heinz. Länger als vierzig Sekunden darf er nicht reden, sonst wird es zu knapp mit dem Abkassieren, bevor der nächste Halt kommt. Dort muß Heinz seine Geiseln wieder freigeben, so wollen es die Regeln des U-Bahn- Schnorrens.

Die Szenerie erinnert an einen Spießrutenlauf

Während er spricht, wird er mißtrauisch taxiert. Potentielle Spender versuchen, ihn einzuschätzen. Lügt Heinz, oder sagt er die Wahrheit? Natürlich, helfen tun wir schon gerne, aber beschissen werden, das mögen wir nicht. Dafür, daß die Krankheit schon ausgebrochen sein muß, macht Heinz einen ganz gesunden Eindruck. Am liebsten würde man das Attest sehen, Heinz' Todesurteil, aber danach fragen? Völlig ausgeschlossen. Sieht er denn krank aus, unser Heinz? Zu dumm, der wadenlange Ledermantel mit dem hochgeklappten Kragen verwehrt den prüfenden Blick auf den Leib. Nur ein paar saubere Jeans sind zu sehen, und schwarz gewienerte Bergstiefel. Erst das schmale, kantige Gesicht birgt Indizien: die Haut ist fahl, dürr ragt die Nase unter der Schirmmütze hervor. Heinz' Zähne sind braun, die Backenknochen spitz. Dort, wo bei uns die Wangen sind, hat Heinz zwei tiefe Löcher, was ihn besonders ausgemergelt erscheinen läßt. Man kann schon sagen: Heinz sieht krank aus. Seine Geschichte könnte stimmen. Oder doch nicht?

„Bitte geben Sie mir Geld, damit ich die mir verbleibende Zeit gemeinsam mit einem Freund in Ruhe und Frieden verbringen kann“, sagt Heinz, und man ist versucht, seinen pastoralen Abschluß mit einem „Amen“ zu beantworten. In Ruhe und Frieden, das weckt Assoziationen zu „Ruhe in Frieden“. Der Todgeweihte macht sich, seinen Sammelbecher aus Plastik in der Hand, auf den Weg durch den Gang. Daß die Szenerie an einen Spießrutenlauf erinnert, wirkt doppelt bedrückend. Jetzt nesteln auch die Unschlüssigen ihr Portemonnaie aus der Manteltasche. Zehn Mark kommen pro Waggon locker zusammen, selten weniger, oftmals mehr. Heinz bedankt sich und hastet in den nächsten Waggon. „Guten Tag, meine Damen und Herren.“

U-Bahn-Schnorren hat nur noch wenig mit dem klassischen Betteln zu tun: Erstmals rücken die Bittsteller den Menschen mit ihrem Elend auf den Leib, statt sich darauf zu beschränken, schweigend ihre Bedürftigkeit zur Schau zu stellen. So schön abstrakte Begriffe wie Gesellschaft, Randgruppen, wachsendes soziales Elend – die bekennenden Bettler hauchen ihnen Leben ein. Ihr Leben, das nach Mundgeruch stinkt. Die Message: „Euch geht es gut, mir geht es schlecht. Ich wende mich an euch, denn ihr seid mitverantwortlich. Vielleicht geht es euch nur gut, weil es mir schlecht geht. Gebt mir was ab von dem Kuchen.“

Sehr zu Heinz' Unmut wird in Berlin die Konkurrenz immer stärker. Seit zwei Monaten ist das U-Bahn-Schnorren auch bei Junkies und Obdachlosen äußerst populär. Die Fahrgäste der Szene- Linie1, die von Kreuzberg über den Bahnhof Zoo führt, werden schon mehrfach pro Fahrt zur Kasse gebeten. „Dabei sind viele von denen gar nicht positiv“, schimpft Heinz. Betrug sei das, hundsgemein, die machen seinen Markt kaputt, verderben das Geschäft. Schon nehmen ihm die Leute seine Krankheit nicht mehr ab, quatschen ihn blöd an. Und das ihm, der vor einem halben Jahr Pionierarbeit geleistet hat. „Wenn ich so einen Lügner treffe, stell' ich ihn bloß, vor allen Leuten in der U-Bahn.“ Heinz hat Berufsethos.

Wirklich Aids zu haben ist für ihn entscheidend. Er weiß, die Wirkung seines Auftritts steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit. Ein großes Loch habe er am Bein, das einfach nicht mehr zuwachsen will: „Ich hab' nur noch 70 Abwehrzellen, das ist ganz wenig.“ Daß es anderen U-Bahn-Bettlern vielleicht auch dreckig geht, ist ihm egal. „Die sollen draußenbleiben aus meiner U-Bahn. Das sind doch ohnehin alles Junkies, die kaufen sich bloß Stoff damit.“

U-Bahn-Schnorren ist sein Job, damit bessert er seine 460 Mark Sozialhilfe „plus fünfzig Mark Aidszuschlag“ auf. Eine feste Wohnung hat er nicht. Hilft ihm die Aidshilfe? „Denen werden doch dauernd Gelder gestrichen, von denen krieg' ich nichts.“

Der Bettelberuf ist hart. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie demütigend es ist, sich da hinzustellen und zu lamentieren.

Ein dickes Fell und Routine braucht der U-Bahn-Schnorrer

„Wenn du da keine Routine bekommst, kannste aufhören. Und ein dickes Fell brauchste, wegen der vielen Beleidigungen. Manchmal krieg' ich so die Wut, da würd' ich am liebsten reindreschen in so 'ne unverschämte Fresse.“

Heike ist längst nicht so selbstbewußt wie Heinz. Ihr Vortrag ist flehender, ihr Blick bettelt, die Stimme ist belegt. „Darf ich euch mal stören, ich bin Heike und bin HIV-positiv.“ Fast fällt sie um, fängt sich im letzten Moment. Keine Frage, Heike geht es schlecht. Keinen Job, keine Wohnung, und ihre beiden Kinder haben sie ihr weggenommen. „Ich bin um jeden Pfennig dankbar“, wimmert sie, wünscht allen Fahrgästen viel Glück und alles Gute und bittet, man möge sich für die Aids- Hilfe einsetzen. Schwankend hangelt sich Heike den Gang entlang, vorbei an den tauben Ohren. Keiner macht Anstalten, Geld rauszurücken, Heikes Auftritt hat wenig Erfolg. Zu lahm kommt sie daher, zu fertig sieht sie aus, mit den verfilzten roten Zottelhaaren und der schmutzigen Jacke. Plötzlich drängt sich eine junge Frau mit grünen Ohrringen und feiner Pelzjacke durchs Gewühl, hin zu Heike, und gibt ihr fünf Mark. Nun läßt sich auch eine ältere Frau erweichen und zwei junge Mädchen. Der Zug fährt ein, Heike schleppt sich ins nächste Abteil. Wieder der Spruch, wieder wenig Resonanz, und wieder taucht der Nerz auf und die grünen Ohrringe. Eine Station später wechselt Heike das Abteil und mit ihr ihre Gönnerin. Sie arbeiten im Team. „Wenn ich erst mal was gebe, trauen sich andere auch“, sagt Lockvogel Beate.

Heike hängt an der Nadel. Seit drei Tagen bettelt sie in der U-Bahn, um das Geld für die Pension zu bezahlen. Den Strich möchte sie sich ersparen. Sechzig Mark kostet das Zimmer, und das Sozialamt zahlt nicht alles. „Aber die Polen von nebenan, die kriegen hundertzwanzig für ihre Luxussuite, den Ausländern schieben sie's rein, und wir krepieren.“ Selbst die Junkies finden noch Sündenböcke. Daß sie heroinsüchtig ist, kann sie in der U-Bahn unmöglich sagen. „Fixer sind der Abschaum, uns hilft keiner mehr.“ Heike heult, die Tränen laufen ihr übers Gesicht. Ihre Freundin quatscht ununterbrochen auf sie ein. Los, Heike, weiter, Heike, stell dich nicht so an, Heike, komm mit runter, los. Was, die Kinder? Ach ja, sind bei Pflegeeltern, sagt Beate. Im Heim, sagt Heike. Die Namen? Äh, vergessen. Woher sie beide kommen, was sie vorher gemacht haben? Sie starren mich ungläubig an. „Verstehste nicht, wir sind Junkies.“ Keine Vergangenheit, keine Zukunft.

Donald sieht nicht so schwarz. Seine U-Bahn-Nummer zieht. Er verkauft sich als Obdachloser mit Frau und zwei Kindern, die bei dieser Kälte mit nur einer dünnen Decke auskommen müssen. Er sammelt Geld für einen warmen Schlafsack. Offenbar kommen Donalds lustige schwarze Augen an. Ziemlich abgerissen sieht er aus. Dreckige Jeans, Arafat-Tuch, abgekaute, pechschwarze Fngernägel – man nimmt ihm die Story ab.

Tränendrüse, Gruppenzwang und Umweltkarte

Nur sein Lockvogel ist wenig glaubwürdig. Ihm schaut der Junkie aus den Augen. Aber zu zweit hat man mehr Chancen, den U-Bahn-Sheriffs zu entgehen. „Wenn die mit den Kötern einen erwischen, ist es schlecht. Die sind saugrob.“ Betteln in den U-Bahnen ist offiziell verboten. „Aber wenn die reinkommen, betteln wir eben nicht.“ Kontrolliert werden sie ohnehin dauernd, beim U-Bahn-Betteln ist schwarzfahren nicht drin. „Sechzig Mark fürs Schwarzfahren? Niemals!“ Die Schnorrer haben Umweltkarten.

Donald ist wie sein Kumpel heroinabhängig, zusammen brauchen die beiden 300 Mark pro Tag für Essen und Drogen. Der eine war Kohlenschlepper, der andere hat Maler gelernt. „Als die Ossis kamen, hat mein Chef mich rausgeschmissen, weil die billiger arbeiten.“ Vor drei Wochen hat ihn seine Frau vor die Tür gesetzt, seitdem geht er in die U-Bahnen. „Das klappt prima. Am Anfang hab' ich mich dauernd versprochen und bin ständig rot angelaufen. Aber jetzt machen wir gut 250 Mark am Tag, mit zehn Touren. Ist doch besser als klauen gehen.“ Donald fürchtet die Konkurrenz nicht. Seine Show ist gut, und um Doppelungen zu vermeiden, teilen sich die Profi- Schnorrer die Routen auf. „Ich hab' jetzt die U6 nach Tegel, die Leute haben Asche. Nur vom Silbergeld aufwärts. Gestern' hab ich einen Zwanziger gezogen, und 'ne Reihe Zehner. Fünfer sind schon ganz normal.“ Am gleichen Abend landet Donald seinen bislang größten Coup: Am Wittenbergplatz gab ihm ein junger Ausländer fünfzig Mark. Festtagsstimmung bei Onkel Donald.

Normale Schnorrer – à la „Haste mal 'ne Mark“ sind arme Hunde gegen die neuen U-Bahn-Schnorrer. „Vor uns können sich die Leute nicht drücken“, sagt Uwe. „Wir arbeiten mit Tränendrüse und Gruppenzwang.“ Doch auch ihn wundert, wieviel Geld gespendet wird. „Wahrscheinlich sind wir so überzeugend.“

Tatsächlich sind die konkreten Lebensgeschichten nicht für alle wichtig. Eine etwa vierzigjährige Frau sieht in ihrer Spendenfreude einen Akt der gerechteren Umverteilung: „Ich fahre grundsätzlich immer schwarz, und das gesparte Geld geb' ich den Schnorrern.“ Der jungen Frau, die Heinz drei Mark gegeben hat, ist es egal, ob seine Story stimmt. Sie kennt alle Schnorrer der U1, die gehören schon richtig dazu. „Ob der nun Aids hat oder nicht, ist unwichtig. Wer in der U-Bahn betteln muß, hat es in jedem Fall nötig.“