■ Heiner Müllers Stasi-Gespräche: Ein Anarchist paktiert
: Ein Mann für gewisse Stunden

Heiner Müller war Zuträger und Gesprächspartner der Staatssicherheit der DDR, mit einem ordentlichen, wenn auch nicht phantasievollen Decknamen versehen, mit einer ordentlichen Akte. Er hat für seine Bereitschaft, mit der Macht berechenbar und konstruktiv (in deren Sinne) zu verhandeln, weder Geld noch Orden entgegengenommen, und in der Tat scheiden die niederen Motive für Heiner Müller aus: der berühmteste deutschsprachige Dramatiker der Gegenwart war der Sorge um seine materielle Existenz schon des längeren enthoben.

Was werden dann Müllers Motive gewesen sein? Und wenn sie so wenig anstößig waren, wie seine erwartbar kaltblütige Reaktion (siehe S.5) vermuten läßt, warum werden die Gespräche erst jetzt (als Unfall) bekannt? Warum hat Müller als gefragter Interviewpartner, als Kommentator der Vereinigung, als Präsident der Ost-Akademie der Künste, als Nachlaßverwalter der DDR-Identität, als Kollege der Kollegen Kant, Anderson et.al. über diesen Sachverhalt geschwiegen, und warum befand er ihn in seiner im Herbst '92 erschienenen Autobiographie nicht der Rede wert? Warum hat gerade er, ein Autor mit Skandalbewußtsein, nicht diesen Umstand zum Anlaß genommen, einen weiteren Skandal mit aufklärender Wirkung in Szene zu setzen? Warum hat er – der es sich als einziger hätte leisten können, weil er als Zyniker bekannt, geschätzt und geliebt war – die Öffentlichkeit in Ost und West nicht mit dem wirksam dialektischen Statement konfrontiert, das heißt: „Ich war dabei, na und?“

Heiner Müller hat das nicht getan, weil er wußte, daß diese Enthüllung mit dem Bild, das er von sich gezeichnet hatte, nicht zur Deckung zu bringen war. Und die bundesrepublikanische Öffentlichkeit muß sich fragen, welchem Typus von Intellektuellen sie mit Müller gehuldigt hat und was diese Huldigung über sie aussagt.

Der überstaatliche Dissident

Heiner Müller hat in Ost- wie Westdeutschland und weltweit eine einzigartige Rolle gespielt: ein Linker, der seine Kritik am real existierenden Sozialismus konstruktiv verarbeitet und zur offenen Diskussion gestellt hat (hier mit Wolf Biermann vergleichbar). Als Person, deren Familiengeschichte ihre Loyalität zur DDR unmittelbar einleuchtend erscheinen ließ (hierin mit de Bruyn und Biermann vergleichbar). Als Intellektueller, dessen ironische Loyalität zu diesem Staat als Qualität seines Denkens gewürdigt wurde (hierin mit Kant vergleichbar). Als Dramatiker, dem immerwährende Schwierigkeiten mit der Kulturpolitik der DDR die Würde der Dissidenz verliehen (hier mit Peter Hacks vergleichbar). Als Autor schließlich, dem gerade das „Trotzdem“, das Dableiben und Standhalten, als besonders durable Integrität, als bescheidener Zoll an die Mühen der Ebenen angerechnet wurden (hier mit Christa Wolf vergleichbar).

Von all diesen AutorInnen aber unterscheidet Müller eine zusätzliche Pointe: er wurde verehrt – weltweit, vor allem aber in Westdeutschland – als gleichsam überstaatlicher Dissident, als Individualanarchist mitten im Sozialismus, als Intellektueller, der mit nichts und niemand paktiert und seine Integrität zu retten versteht auf dieses winzige Rückzugsterrain, das im ausgehenden 20. Jahrhundert dem Intellektuellen geblieben ist: die zynische Persistenz gegenüber jeder Einflüsterung der Macht.

Müller hat sich zur DDR wie zu Material verhalten: „Ich habe das Ganze als dramatisches Material betrachtet (schreibt er in seiner Autobiographie zur Auseinandersetzung um die ,Umsiedlerin‘), ich selbst war auch Material, meine Selbstkritik ist Material für mich. Es war immer ein Irrtum zu glauben, daß ich ein politischer Dichter bin.“ Diese Distanz zur Wirklichkeit, die ihre akademische Begnadigung in der Simulationstheorie gefunden hat (und ihre biographische Umsetzung in Sascha Anderson), wurde Müller – gerade von den westdeutschen Feuilletons, die das politische Engagement der Linken programmatisch denunzieren – als letzte Weihe angerechnet: hier war mal einer, der sich nicht mehr täuschen ließ, der letzte legitime Erbe Brechts, der die Gegebenheiten anerkannte und seine kluge Haut zu retten verstand. Hier war mal einer, der schon illusionslos anfing („Ich hatte selbst keine Hoffnungen“, sagte Müller zum 17. Juni 1953, „auch keine zerschlagenen, ich war ein Beobachter, nichts weiter.“) und deshalb bei sich bleiben konnte, hier war endlich einer, der die Erfahrungen des Stalinismus und der kapitalistischen Demokratie ohne Verirrung ins illusionäre Engagement aushielt und doch Dichter war. Hier war mal einer, den die Rechte nicht als Renegaten instrumentalisieren konnte und der dennoch irgendwie der DDR eine lange Nase machte. Hier war aber auch einer, der, mit List der Wahrheit verpflichtet, den Sozialismus aushielt und der sogenannten Freien Welt eine wohlformulierte Absage erteilte. Hier war, in einem Wort, der Mann für gewisse Stunden: wenn alle Gewißheit in Scherben fällt, bleibt als einziger der Denker übrig, der nie mehr als sich behauptet hat.

Der Dissident im Dialog

Der entscheidende Widerspruch von Müllers Rolle als Gesprächspartner der Stasi zu seiner Selbstdarstellung als überstaatlicher Dissident liegt darin, daß seine behauptete Distanz zur Macht und der Profit, den er als Intellektueller daraus zog, mit konstruktiven Gesprächen mit dieser Macht nicht vereinbar sind. Müller war Mitglied keines Vereins, er wurde wegen der „Umsiedlerin“ 1961 vom Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen, er war nicht Parteimitglied („In Konfliktsituationen war es immer besser, nicht in der Partei zu sein.“), er war nicht einzubinden und zu nichts zu verpflichten. Auf diesem Umstand, auf dieser institutionellen Lichtung um ihn herum (die er sich freigeschlagen hatte, denn er war ja einmal Parteimitglied und Mitglied des Schriftstellerverbandes) beruhten seine Bewegungsfreiheit und sein Nimbus: im Westen war er der ironisch loyale Dissident, im Osten war er der lebendige Beweis für die Toleranz des demokratischen Sozialismus – und vice versa. Müller war Projektionsfigur für die Mächtigen und die Ohnmächtigen, für die Linken und die Desillusionierten, und Müllers Werk und Leben bestanden vornehmlich in dem Nachweis, daß die individuelle, zu nichts verpflichtbare Intellektuellenexistenz eine dauerhafte Würde für sich beanspruchen kann, die alle Anfechtungen übersteht. Wer keine Gewißheiten und keine Beitrittserklärung zu widerrufen hat, dem kann nichts mehr passieren, der hat den Trumpf in jeder Diskussion. Wer sich zu seinem Staat wie Material verhält, der ist vor jeder Zuarbeit zur Repression gefeit. Und dem wird der heikle Umgang mit jeglicher Berechenbarkeit als besondere, verschwiegene, bescheidene Integrität angerechnet.

All dies wäre vielleicht sogar – in einer kapriolen, aber womöglich lohnenden Anstrengung des Geistes – mit einer IM-Tätigkeit abgleichbar gewesen – hätte Müller sie selbst zum Thema gemacht. Sein dreijähriges Schweigen über diese Gespräche zeigt mehr als jede mögliche Erklärung, daß er sich über die Unvereinbarkeit seiner geheimen Rolle als „Heiner“ mit seiner offiziellen Rolle als Heiner Müller bewußt war.

Der Dissident im Nachruf

Sascha Anderson profitierte einerseits von einer intellektuellen Distanznahme zur politischen Wirklichkeit in West und Ost und andererseits von der akademischen Ausarbeitung dieser Distanz. Der ehemals subversive Gedanke der Simulation von Wirklichkeit, das blanke Beharren auf der schlichten Einsicht, daß die Welt Theater sei, waren Andersons Rechtfertigung: die Stasi hat Politik simuliert, und wir die Mitarbeit. Bedauerlich nur, daß unsere heikle Öffentlichkeit so viel Zeit und Rede gebraucht hat, bis sie die Simulationstheorie von Anderson als das bezeichnen konnte, was sie ist: Gewissenlosigkeit und Machtverliebtheit.

Hermann Kant ging anders vor. Bis '91 war seine Haltung: Ich habe, in meiner prekären Position, ganz offiziell das Beste versucht. Ich habe nur mit der Macht paktiert, um das Schlimmste zu verhüten. Und schließlich, meine Damen und Herren: Wer war ich schon?

Nach der Entdeckung seiner IM-Akte (deren Wahrheit er bestreitet) verlief dieselbe Rede invers: In seiner prekären Position hat er auch ganz inoffiziell das Beste versucht. Mit der Macht hat er dennoch paktiert, um das Schlimmste zu verhüten. Aber zu denen, die sich beklagen, daß er ihr Vertrauen ausgenützt habe, sagt er offen: Aber schließlich, meine Damen und Herren: Alle haben doch gewußt, wer ich war!

Beide, Anderson und Kant, rekurrieren in ihren Selbstverteidigungen auf die Argumentation mit dem kleineren Übel. Heiner Müller hat in seiner bisherigen Selbstdarstellung etwas anderes glauben gemacht: daß er, als einziger Intellektueller von Rang der DDR, Karl Kraus' Diktum gelebt habe: Wenn ich mich zwischen zwei Übeln zu entscheiden habe, entscheide ich mich nicht.

Er hat sich offenbar doch entschieden.

Der Dissident in der Nachlese

Die schlichte Unterscheidung in Leben und Werk ist Müller mehr als geläufig, er hat sie für sich beansprucht. Geläufig ist ihm und uns aber auch die (auf den Gedankenträger selbst anwendbare) Einsicht Gadamers, daß die Wirkungsgeschichte eines Werkes in dasselbe eingeht. Heiner Müllers Werk war, seit nunmehr zehn Jahren, auch sein Leben, und die Rezeption seiner Stücke vor dem Hintergrund seines Lebens war nicht nur psychologisch, sondern auch systematisch motiviert: wo die Wahrheit für Aufruhr sorgt, bekommt sie ein tatsächliches Mehr an Gewicht. Nun scheint es, als wäre vor allem ein Zitat des Autors auf denselben anwendbar: „Denn süß ist wohnen/“, schrieb Müller in Anspielung auf Hölderlin, „Wo der Gedanke wohnt, entfernt von allem.“ Elke Schmitter