Streletz bestreitet „Schießbefehl“

■ Verfassungsgericht entscheidet über Honeckers Freilassung

Berlin (taz) – Die letzte Gelegenheit, Erich Honecker noch einmal vor die Schranken des Gerichts treten zu lassen, sollte nicht verpaßt werden. Die Verteidigung von Fritz Streletz beantragte, „Erich Honecker, JVA Moabit, als Zeugen zum Beweis der Tatsachen zu vernehmen“, daß es keinen Schießbefehl gegeben habe und daß der Angeklagte Fritz Streletz in seiner Funktion als Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) keinerlei Weisungs- und Leitungsfunktion über die Angehörigen der Grenztruppen ausübte. Erich Honecker sei zum jetzigen Zeitpunkt dringendst zu vernehmen, da er voraussichtlich nach dem kommenden Donnerstag wegen Verhandlungsunfähigkeit als „Beweismittel“ nicht mehr zur Verfügung stünde.

Die Vorentscheidung über die Einstellung des Verfahrens gegen Erich Honecker könnte bereits vor dem nächsten Verhandlungstermin ergehen. Dies teilte der Präsident des Berliner Verfassungsgerichts Klaus Finkelnburg gestern mit. Das Gericht entscheidet über eine Beschwerde der Honecker- Verteidigung. „Freiheit für Erich Honecker“ wird ein entsprechender Beschluß unmittelbar jedoch kaum bedeuten. Allenfalls könne das Verfassungsgericht eine entsprechende Weisung an die 27. Strafkammer erteilen.

Der neue Vorsitzende Richter Hans Boß, 47, leitet das Verfahren in dem Rumpf-Prozeß gegen die übriggebliebenen Fritz Streletz, Heinz Keßler und Hans Albrecht im Unterschied zu seinem Vorgänger Bräutigam absolut ruhig. Die Anträge der Prozeßbeteiligten nimmt er aufmerksam zur Kenntnis, ohne sie jeweils als Angriff gegen die eigene Person zu werten. So ist endlich Ruhe in dieses Verfahren gekommen, und der Versuch, zur Sache zu arbeiten, kann als geglückt bezeichnet werden.

Bevor Fritz Streletz am 14. Verhandlungstag in seinen Einlassungen zur Sache fortfuhr, wurde der Antrag der Streletz-Verteidigung abgelehnt. Erich Honecker werde von seinem umfassenden Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen und eigne sich somit nicht als Beweismittel, verkündete Boß. Honecker hatte in einer schriftlichen Erklärung den Prozeßbeteiligten mitgeteilt, „daß angesichts meiner Stellung in der DDR-Regierung und der gegen mich erhobenen Vorwürfe ich die Aussage so weit verweigern kann, daß es einem umfassenden Aussageverweigerungsrecht gleichkommt“.

Also konnte Fritz Streletz zu dem zentralen Punkt der Anklageschrift aussagen, wonach Erich Honecker in der Sitzung des NVR am 3.Mai 1974 gesagt haben soll: „Nach wie vor muß bei Grenzdurchbrüchen von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden.“ Diese Äußerung, die sich lediglich in einer von Streletz selbst verfaßten „Niederschrift“ fände, sei nicht Bestandteil des offiziellen Protokolls, sagte der Angeklagte. Für keines der Mitglieder des NVR habe die fragliche Sitzung eine Änderung bei Grenzdurchbruchsversuchen bedeutet. Immer sei klar gewesen, daß die geltenden gesetzlichen Bestimmungen Grundlage für das Vorgehen an der Grenze seien. Dies belege auch der folgende Satz in der „Niederschrift“: „An den jetzigen Grenzbestimmungen wird sich weder jetzt noch in Zukunft etwas ändern.“ Streletz: „Um es ganz deutlich zu sagen: Auch auf der 45. Sitzung des NVR wurde kein neuer Befehl zum Schußwaffengebrauch gegeben.“ ja