Nachschlag

■ Thomas Langhoff liest aus Horvaths „Ewigem Spießer“

Die Sauferei ist vorbei. Das Rampenlicht beleuchtet den Rest: Biernoagerl in den Krügen, verschobene Stühle und ein müder Pianist mit Hosenträgern. Uwe Hilprecht spielt noch ein paar Walzer, bis alle Platz genommen haben, hebt dann das Glas und dreht sich um – Prosit dem Publikum! So richtig bayerisch könnte es werden, bei diesem Auftakt der Sonntagsmatinee in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Der weiß-blaue Stammtischwimpel grüßt vom Klavier.

Doch dann kommt's – Thomas Langhoff sei Dank – ganz anders. Er betritt die Bühne und setzt sich an den Wirtshaustisch. Verflogen ist die Bierseligkeit. Die Hoffnung auf leichtverdauliche Häppchen Satire am Morgen, auf eine Nabelschau jenseits des Weißwurstäquators kann begraben werden. Schwarzgekleidet — nur die Hemdknöpfe sind weiß — liest der Intendant des Hauses den ersten Teil aus Horváths „Der ewige Spießer“, seinem ersten, 1930 erschienenen Roman. Die Hauptperson der bissigen Satire heißt Alfons Kobler. Ein Spießer und „hypochondrischer Egoist“ aus der Münchener Schellingstraße: gefährlich einfältig, ein schmieriger Krämer und braver unmoralischer Mensch, der noch nirgends gewesen ist, aber überall imponieren will. Als „reichsdeutscher Faschist“ bezeichnet der sich beim italienischen Zoll. Kobler reist im Zug zur Weltausstellung nach Barcelona, wo er die Partie seines Lebens zu machen hofft (was ihm natürlich nicht gelingt): Eine reiche Dame will er dort „kompromittieren“ und damit zur Ehe zwingen. Kobler und seine diversen Zugbekanntschaften verkörpern jene Spießertypen, die nie aussterben.

Langhoff hat recht, daß er Horváth liest zu dieser Andachtsstunde, an diesem Sonntag morgen. Und im Parkett weiß man es zu schätzen. So rasant, aber nie hastig oder unpräzise, jagt Langhoff durch die Kapitel, daß keiner daran zweifeln kann: Kobler wird in Barcelona ankommen. Und wir mit ihm. Über eineinhalb Stunden zieht einen das Tempo mit, gerät man hinein in den wirren Gedankenstrudel des Romanhelden und seiner Reisebegleiter(innen). „Was ist der Mensch neben einem Berg? Ein großes Nichts ist der Mensch neben einem Berg“, fällt Kobler blitzartig ein, und wir ahnen, daß er sich dem Brenner nähert.

Nur wenige Ruhepunkte gönnt Langhoff sich – und uns. Da spielt dann zarte Akkordeonmusik im Hintergrund: Kobler betrachtet das Meer, „unsere Urmutter“, oder wird beim Anblick einer „Gnädigsten“ narrisch sentimental. Schon treibt sich Langhoff wieder an und läßt dem Temperament die Zügel schießen, mit beiden Fäusten trommelt er auf den Tisch, hebt den Zeigefinger, faltet die Hände. Ungemütlich wird es, wenn er liest, kaum je wechselt er die Stimmlage, nie verfällt er ins wärmende Idiom (in Zürich geboren, in München ein häufiger Gast, könnte er es sicher mühelos). Scharfe Silben pfeifen um unsere lauschenden Ohren, und das, was treffen soll, schleudert Langhoff so spitz über die Rampe, daß die Lacher verstummen: „Der D-Zug fuhr pünktlich ab. ,Das ist die deutsche Pünktlichkeit‘, hört Kobler jemanden sagen mit hannoverschem Akzent.“

Am Ende sind wir wieder dort, wo der Berliner den Spießer am liebsten hat: in München. Die Welt ist wieder in Ordnung: in Berlin. Applaus. Der Sonntag nimmt seinen Lauf. Stephan Schurr