Short Stories from America
: Sieger nach Punkten

■ Wer hat das bessere Einwanderungsgesetz?

„In den Vereinigten Staaten arbeiten elf Millionen Immigranten, die jährlich 240 Milliarden Dollar verdienen; davon zahlen sie jährlich über 90 Milliarden Dollar an Steuern. Die öffentliche Unterstützung für Immigranten beläuft sich nach Schätzungen auf jährlich fünf Milliarden Dollar. Der Prozentsatz der Einwanderer, die öffentliche Unterstützung erhalten, liegt nur um einen Prozentpunkt über dem entsprechenden Anteil der geborenen Amerikaner.“ (Business Week, 13.Juli 1992)

In dieser Saure-Gurken-Zeit zwischen den Jahren bin ich nur froh, daß Bush die Iran-Contra- Sechs begnadigt hat. Mit einer einzigen, des Weihnachtsmannes würdigen Geste machte er Lametta aus einer Verurteilung, drei Schuldbekenntnissen und zwei bevorstehenden Verfahren, bei denen höchste Regierungsmitglieder betroffen waren: ein ehemaliger Verteidigungsminister, ein ehemaliger Nationaler Sicherheitsberater, ein ehemaliger stellvertretender Außenminister, der ehemalige Leiter der Geheimoperationen der CIA und der ehemalige Leiter der CIA-Einsatzgruppe Mittelamerika. Ich begrüße das nicht etwa aus hämischer Freude, daß Bush jetzt noch schuldiger wirkt (warum schlägt er das Verfahren gegen den früheren Außenminister Caspar Weinberger nieder, wenn nicht aus Angst vor Belastungsmaterial gegen ihn selbst?). Ich begrüße es als einen Erfolg des Nationalstolzes. Wie die meisten anständigen Amerikaner habe ich etwas dagegen, wenn wir den Deutschen hinterherhinken.

Erst war es die Wirtschaft. Deutschland war nicht nur an der Produktion und dem Lebensstandard der USA vorbeigezogen, es beherrschte sogar die amerikanische PR: Lastwagenfahrer, die nicht wußten, wie sie Weinberger aussprechen sollen, hatten mit dem VW-Zungenbrecher „Fahrvergnügen“ keinerlei Schwierigkeiten. Dann machte sich Deutschland auf den Titelseiten breit: als das Land, das sich so vergnüglich hassen ließ. Zuerst hatten die Amerikaner viel Spaß daran, mit dem Finger auf die Neonazis zu zeigen; es schmeichelte unserem Bedürfnis, die Guten zu sein. Aber bald regte sich unser berühmter Konkurrenzgeist und überwucherte – wie noch stets – die Versuchung zur Güte. Die amerikanische Seele läßt sich gern von dem Bedürfnis rühren, im Recht zu sein, aber stärker ist immer die Sucht, der Größte zu sein.

Also ließ Bush die Gauner laufen. Die deutsche Regierung ließ lediglich ausländerfeindliche Brandstifter und Bombenwerfer unbehelligt – bloße Kleinkriminelle. Bush begnadigte hochgestellte Männer aus der Regierung, die für das Wohl des Landes verantwortlich waren, die illegal Munition an den Iran verkauft und beträchtliche Gewinne erzielt hatten, mit denen sie dann illegal die Contras finanzierten; Männer, die den Kongreß und die Öffentlichkeit nach Strich und Faden belogen hatten. Niemand wird Amerika jemals hinter sich lassen. Ein Punkt für uns. Bush sollte nach der Begnadigung auch noch die Untersuchung der Clinton-Paß-Affäre einstellen lassen. Wie Wahlkampffans sich erinnern werden, durchforschte ein Mann der Bush-Regierung illegal die Paßunterlagen von Clinton und seiner Mutter. Seiner Mutter! Wer würde so tief sinken? Anscheinend war einer der höchsten Beamten des Außenministeriums dazu durchaus fähig, und das Weiße Haus wußte bescheid. Bush ist gerade so schön im Zug: soll er sie doch alle miteinander laufen lassen.

Bush war natürlich bereits im letzten Sommer so schön im Zug. Deutschland erlebte wachsenden Ausländerhaß (nicht nur) bei ultrarechten Splittergruppen. Bush kann sich rühmen, daß seine Regierung im Kern gegen Ausländer eingestellt ist. Er schloß die US-Grenzen für Haitianer, die mit dem Boot aus ihrem Lande flohen. Ein Punkt für uns. Er lud Patrick Buchanan ein, vor dem Parteitag der Republikaner zu sprechen, und wie der dann sprach... Zum Beispiel sagte er, die Immigranten würden den europäischen Charakter des Landes „verwässern“. Noch ein Punkt für uns.

Ausländerfeindlichkeit war Bush nicht genug: in das Wahlprogramm der Republikaner nahm er auch noch die Feindschaft gegen hier geborene Schwarze und Hispanics auf, gegen Schwule und gegen Frauen, die abtreiben ließen, gegen Frauen, die nicht abtreiben ließen und deshalb arbeiten müssen, um ihre Kinder zu ernähren, und gegen Frauen, die keine Arbeit haben und deshalb öffentliche Unterstützung erhalten. Ein Dreifachpunkt. Was haben dem die Deutschen entgegenzustellen? Niemand soll jemals behaupten können, Bush hätte sich von Ausländern übertreffen lassen.

In diesem Geist brachte der Kongreß einen Zusatz zur Verfassung ein, wonach die in Amerika geborenen Kinder illegaler Einwanderer nicht die Staatsbürgerschaft erhalten sollen – ein Punkt, ein Punkt! Und er wurde nicht nur von zwölf Republikanern unterstützt, sondern von allen Demokraten außer zweien (Charles Rangel und Anthony Beilenson, bekannten Verfechtern der Bürgerrechte). Ein doppelter Punkt. Die Unterstützung der Demokraten verdankte sich der Überzeugung vieler in Amerika geborener Schwarzer, die Immigranten nähmen ihnen die Arbeitsplätze weg. Ein Extrapunkt für Spaltung und Feindschaft unter den Armen und Farbigen. Gouverneur Pete Williams von Kalifornien führte so beredt Klage über die Einwanderer, die den Staat in den Bankrott treiben, daß Los Angeles, San Diego und Orange County Untersuchungen über die Kosten der Immigranten für die Steuerzahler in Auftrag gaben.

Das neue deutsche Asylrecht, das die Titelseiten füllte, bereitete den amerikanischen Punktezählern eine Weile Sorgen. Abgewiesen werden Immigranten aus Ländern, die von der Regierung als „nicht repressiv“ eingestuft werden, sowie Immigranten, die vor der Einreise durch „nicht repressive“ Länder gekommen waren (ein Iraner zum Beispiel, der über die Schweiz nach Deutschland kommt). Weiter wird die Zahl der Kriegsopfer und Gastarbeiter beschränkt, denen jährlich die Einreise gewährt wird. Roma und Sinti aus Rumänien und Bulgarien, offiziell als nicht repressiv eingestufte Länder, würden abgewiesen, obwohl sie in jenen Ländern von Neonazis gejagt werden. Wie sollte Amerika das übertreffen?

Die US-Regierung gibt jedoch niemals schnell auf: Sie ließ tausend bosnische Flüchtlinge ins Land, gegenüber 200.000 Jugoslawen, die Deutschland im Jahre 1992 einreisen ließ. Das sind 199.000 Punkte für uns. (Die Briten, die immer eifrig nach Gelegenheiten suchen, sich den „Kolonien“ überlegen zu fühlen, verweigerten 175 Bosniern die Einreise, obwohl sie in Großbritannien persönliche Bürgen hatten.) In Übereinstimmung mit ihrer Regierung begann sich auch die amerikanische Presse ausländerfeindlich zu geben – das hat seit dem Sommer ein Ausmaß angenommen, daß die New York Times die ausländerfeindlichen Artikel als „eine Flut“ bezeichnete, die Fragen aufwerfe, wie sie „in diesem Einwandererland bisher selten gestellt wurden“.

Im letzten Herbst machte Senator John Seymour (Republikaner aus Kalifornien) den Vorschlag, 1.500 Polizisten einzustellen, um Amerikas Südgrenze zu Mexiko zu überwachen. Ich glaube, er wollte damit den Vereinigten Staaten ihren Vorsprung sichern.

Die progressive Demokratin Diane Feinstein, die in den Novemberwahlen Seymour aus dem Feld schlug, antwortete mit dem Vorschlag, zu diesem Zweck die Armee einzusetzen.

Um das Ganze abzurunden, strich das Staatsparlament von New Jersey die öffentliche Fürsorge für illegale Einwanderer und bereitet ein Gesetz vor, wonach sie keine Führerscheinprüfungen ablegen dürfen. Ein Schulbezirk in Queens weigerte sich, den New Yorker Lehrplan zu übernehmen, weil darin Toleranz gegenüber Homosexuellen gefordert wird, und ein Schuldirektor in Elmont, New York, denunzierte zwei Kinder seiner Schule an die Einwanderungsbehörde. Ein ganz dicker Punkt.

Wer alles zusammenzählt, erkennt: Amerika liegt vorn. Es gibt jedoch ein paar Zahlen, die das Endergebnis noch verändern könnten. Anfang November demonstrierten in Berlin 350.000 Menschen gegen die neonazistische Gewalt. Anfang Dezember demonstrierten 300.000 Menschen in München, begleitet von Demonstrationen in 15 weiteren bayerischen Städten. Am Weihnachtstag beteiligten sich 200.000 Menschen an einer Lichterkette, die sich acht Kilometer von West- nach Ostberlin erstreckte. Proportional zur US-Bevölkerung wären das Demonstrationen von 1,4 Millionen, 1,2 Millionen und 800.000 Menschen. In den Vereinigten Staaten haben noch nie, aus keinem Anlaß, mehr als eine Million Menschen demonstriert. Soll das heißen, daß wir gewinnen – oder verlieren wir? Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von

Meino Büning