Hoffen auf ein Wunder

Peter Palitzsch eröffnet mit „Pericles“ von Shakespeare das neue Berliner Ensemble  ■ Von Sabine Seifert

Fünf neue Direktoren hat das altehrwürdige Haus am Schiffbauerdamm in Berlin-Mitte, vor kurzem hundert Jahre alt geworden. Warum es Matthias Langhoff nicht alleine leiten wollte, beschreibt er in einer „Drucksache 1“ genannten Broschüre, einer vom Haus das Haus begleitenden Zeitschrift. Das habe unter anderem zu tun mit einer spezifischen Haltung der kulturpolitisch Verantwortlichen. Als Haltungsschäden diagnostiziert Langhoff, der lange in der Schweiz und in Frankreich gearbeitet hat, vor allem: Überheblichkeit (Starrhalsigkeit?) und mangelnde Flexibilität (krummes Rückgrat?). Zwei Alternativen sieht er: die Weiterführung des Berliner Ensembles als aufgeblähtes Staatstheater – langweilig. Oder eine Neugründung des Berliner Ensembles – schwierig.

Langhoffs Brief an den Kultursenator Berlins, Roloff-Momin, stammt allerdings vom Juni 1991. Die gewünschte Theaterreform genoß kosmetisch vorsichtige und kostspielige Behandlung: das BE wurde in eine landeseigene GmbH umgewandelt, einem Teil des Ensembles gekündigt, fünf Direktoren (statt einem) angestellt. Zukünftig wird en bloc und nicht mehr übliches Repertoiretheater gespielt. Das BE leistet sich Einheitspreise von 25 Mark, wer einen Theaterpaß für drei Mark erwirbt, sieht die Vorstellung bereits für 15 Mark. Dumpingpreise am Bahnhof Friedrichstraße.

Langhoff jedenfalls wollte nicht alleine regieren, und auch nicht als erster. So eröffnete Peter Palitzsch, der Brecht-Schüler, die neue Ära, während Langhoff einen Tag vorher in Pariser am ThéÛtre Nanterre-des Amandiers mit O'Neill herauskam.

Das Parkett des prächtigen altmodischen Theatersaales des BE war ausgeräumt, statt samtigroter Stuhlreihen gab es Sitzwürfel mit einem ähnlichen Stoffbezug. Wer nicht früh genug gekommen war, mußte auf dem Fußboden sitzen oder stehen. Die neue Rang- und Sitzunordnung (Einheitspreise!) ist der Rekonstruktion eines Theaterraumes wie zu Shakespeares Zeiten zu verdanken. Von der Hauptbühne führt quer durch den Zuschauerraum eine schmale Rampe zu einer Minibühne, so daß vorne wie hinten gespielt werden kann. Das Publikum sitzt oder steht seitlich des Laufstegs und dreht seinen Kopf mal links, mal rechts herum (könnte das eine gewisse Halsstarrigkeit erklären? man hat es doch gern bequem).

Shakespeares „Pericles“, ein selten gespieltes Stück des englischen Meisters, hat sich der 64jährige Palitzsch für seine Rückkehr ans Berliner Ensemble ausgesucht; dem Brecht-Theater hatte er wie der DDR 1957 nach des Dichters Tod den Rücken gekehrt. In einem Interview mit Rainer Mennicken sagt Palitzsch über seine Arbeit im Theater allgemein: „Heute würde ich sogar sagen: Ich mache keine Stücke mehr, die ich kann, ich mache nur noch Stücke, die ich nicht kann. (...) Du mußt doch an deine eigenen Empfindungen herankommen, an deine Schwächen und Krisen. Und an neue Ideen.“ An Ideen hat es ihm bei seiner Pericles-Inszenierung nicht gefehlt, aber unbedingt neu waren sie nicht; auch an Schwächen hat es nicht gemangelt, der Regie wie des Ensembles, bloß zu Stärken haben sie sich nicht verwandelt.

Auch wenn nicht völlig klar ist, ob das 1609 erstmals veröffentlichte Schauspiel wirklich und allein von Shakespeare stammt, so klingen jedenfalls bekannte Shakespeare-Motive, vor allem aus dem „Wintermärchen“, in „Pericles“ auf. Läuterungsdrama eines geprüften Helden, den es, heimatlos geworden, über die Meere treibt. Ein Stationendrama mit mythologisch-märchenhaften Zügen, das an drei Königshöfen spielt. Und ein traumhaftes Ende, an dem Pericles seine tot geglaubte Tochter und seine für tot befundene Frau, die auf wundersame Weise von ihrem Tod genesen ist, wiederfindet. Traum, Wahn oder Wirklichkeit?

Volker Spengler macht aus der Figur des Erzählers Gower einen Bänkelsänger in einem englischen Vorstadtpub (ganz im Brechtschen Sinn des epischen Theaters): kein dunkler Todesengel, aber auch kein netter Märchenonkel, sondern ein gerissener unheilverkündender Geschichtenerzähler und Kommentator.

Palitzsch' Dramaturg Holger Teschke hat eine neue, eine – pardon – sausaloppe Textfassung für die Berliner Inszenierung erarbeitet. Die derbe Sprache (bis hin zu Sprüchen wie: „Wegklatschen, den Penner mit der längsten Hellebarde“) paßt zu den komisch bis albernen Regieeinfällen. Insbesondere der Ritterparodien befleißigt man sich ja in letzter Zeit mit Vorliebe. Da versucht sich einer in voller Montur zu bücken. Die Männer mit den Kindsköpfen spreizen und verrenken die gepanzerten Glieder. Sie tanzen einen blechern scheppernden Reigen und bekommen vor lauter Eifer gar nicht mit, wie sich die Prinzessin den einzigen ungeschützten Mann, Pericles, aussucht.

Die pralle Sprache und das derbe Getue stehen aber im starken Kontrast zur stilisierten Künstlichkeit durch Schminke, Kostüme und Musik. Des Antiochus Tochter singt das (unaussprechliche) Rätsel, das Pericles nicht zu lösen vermag (daß sie nämlich mit dem Vater schläft). Palitzsch übernimmt das opernhafte Element und baut es, mit Hilfe von fünf Musikern, zu einer eigenständigen musikalischen Ebene live auf dem Theater aus. Die Klänge lassen an Eisler, Oper und auch Free Jazz denken. Von Anbeginn wird auf einem zu hohen Ton gesungen und gespielt, was es schwierig macht, insbesondere zum Ende hin, dramatische Spannung oder Überraschungsmomente aufkommen zu lassen.

Manchmal gleitet das Stück auch schlicht ins Schrille ab. Die Bordellszene wird durch Tausch von Geschlechterrollen (Volker Spengler spielt die Bordellwirtin und Irm Hermann den Kuppler) zum Szenestück, Bedrohlichkeit und Gewalt lösen sich in Albernheit auf. Zwar ist es bestimmt komisch, daß Marina, die Tochter des Pericles, jeden Freier durch laute Gebete in die Flucht schlägt; aber es hat auch etwas Tragikomisches, und dieser Ton, diese Ebene fehlt der Inszenierung völlig.

Welche Geschichte, welche Erfahrung wird uns erzählt? Daß der Mensch geprüft wird, er am Ende allein und heimatlos ist? Und daß sich dann, wenn er geprüft genug ist, irgendwo zwischen Leben und Tod Wunder(welten) auftun? Daß wir auf Wunder noch hoffen können? Und wenn, auf welches – das Wirtschaftswunder? Oder daß wir auf Wunder nicht mehr hoffen sollen? Das Theaterwunder?

Im Februar geht es am Berliner Ensemble mit Pauken und Trompeten weiter. Einar Schleef wird dann Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“ uraufführen.

Shakespeare: „Pericles“. Regie: Peter Palitzsch. Bühne: Karl Kneidl. Mit Ekkehard Schall, Hermann Beyer, Petra Cammin, Anette Daugardt, Volker Spengler, Irm Hermann, Gabriela Maria Schmeide. Berliner Ensemble: täglich bis 31. Januar (außer 14., 21., 25./26.1.)