■ Verfassungsgericht gibt Honeckers Beschwerde statt
: Spektakuläre Entscheidung

Jeder Tag, den Erich Honecker in Haft verbringt, bedeutet einen „Sieg des Rechtsstaates“. Dieser rachegesättigten Auffassung hat sich der Berliner Verfassungsgerichtshof gestern dankenswerterweise nicht angeschlossen. Vielmehr läuft die Entscheidung des höchsten Berliner Gerichtes auf das genaue Gegenteil hinaus: Jeder Tag, den Erich Honecker, seit der Entscheidung vom 21.12. in Haft zugebracht hat, war mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Indem das Landgericht den Prozeß gegen einen Angeklagten fortsetzte, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Ende des Verfahrens nicht mehr erleben würde, hat es Honeckers Menschenwürde verletzt, und das Strafverfahren zum Selbstzweck erhoben. Seit gestern wissen wir: Es ist unzulässig, einen Menschen „zum bloßen Objekt von Strafverfahren und Haft zu machen“.

Vernichtender hätte die Mißbilligung nicht ausfallen können. Bis in die Wortwahl gibt die Begründung der Argumentation der Honecker-Verteidigung recht. Die 27. Große Strafkammer erlebt damit — nach den denkwürdigen faux pas des ausgetauschten Vorsitzenden — ihr eigentliches, juristisches Desaster. Ad absurdum geführt werden zugleich die gewundenen Verlautbarungen der Staatsanwaltschaft, die, um die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zu wahren, Honecker zwar zum x-beliebigen Angeklagten herabstufte, ihn in der Frage der Haft- und Verhandlungsfähigkeit jedoch nach offensichtlich außerordentlichen Maßstäben behandelte. Jeder normale, wegen Totschlags Angeklagte wäre längst aus der Haft entlassen worden. Doch im Falle Honeckers war das Verfahren von Anfang an mit nichtjuristischen Erwägungen überfrachtet. Schon die Rückführung des einstigen Staatschefs demonstrierte weltweit das außerordentliche politische Interesse an der Strafverfolgung. Danach wurden, mit jedem abgeschmetterten Antrag der Verteidigung, die Zweifel genährt, das Gericht könne sich souverän und seinem Auftrag gemäß, den politischen Erwartungen entziehen.

Am Ende hat das Landgericht dann allerdings den Zeitpunkt verpaßt, an dem es noch hätte Gesicht wahren können. Dem vom neuen Vorsitzenden beabsichtigten, geordneten Rückzug — neue Gutachten, neue Entscheidung — ist das Verfassungsgericht mit seiner einschneidenden Begründung zuvorgekommen. Das war ganz offensichtlich beabsichtigt und zeigt, wie gravierend das höchste Gericht die vorausgegangene Fehlentscheidung einschätzte. Indem es jedoch derart spektakulär rechtsstaatlichen Grundsätzen zur Geltung verhilft, pointiert es zugleich den von Bärbel Bohley formulierten Widerspruch zwischen der Rechtsstaatlichkeit und dem Gerechtigkeitsempfinden — vor allem der Opfer des Regimes. Der Widerspruch bleibt — doch gerade der vorausgegangene Versuch der Strafverfolgung eines Todkranken zeigt, daß eine rechtsstaatlich vertretbare Alternative nicht zu haben ist. Matthias Geis