Zehntausende fliehen aus Bombay

■ „Kriminelle, Monster und Tiere in Menschenform“ wüten in der Millionenstadt

Berlin (taz) – Bombay, die Zwölf-Millionen-Metropole im Westen Indiens und Geburtsstadt Salman Rushdies, gleicht einer besetzten Stadt. Die Stationierung von über 2.500 schwerbewaffneten Soldaten hat in den von der Gewalt zwischen Hindus und Muslimen am schwersten betroffenen Stadtvierteln nur vorübergehend für Ruhe gesorgt. Die Unruhen dehnten sich gestern auf andere Stadtteile aus und haben bisher weit über 200 Menschen das Leben gekostet. Stoßtrupps aus Aktivisten der radikal-hinduistischen „Bharatiya Janata Party“ (BJP) verüben weiterhin Plünderungen und Brandstiftungen gegen Geschäfte und Häuser von Muslimen und gehen mit Benzinbomben gegen die Polizei vor. Zu Zehntausenden belagern Flüchtige, überwiegend Muslime, die Bahnhöfe der Stadt, um mit von der Stadtverwaltung eingesetzten Sonderzügen Bombay zu verlassen. Die Hindu-Organisationen scheinen die Kontrolle über die Gewalt zu verlieren; ein Friedensappell der radikalen Miliz „Shiv Sena“ (RSS) am Montag abend verhallte ungehört. Aus politisch gesteuerter Gewalt wird eine sozial motivierte Revolte – Bombay ist die dynamischste Wirtschaftsmetropole Indiens, in der der Reichtum der neuen Mittelklasse mit am sichtbarsten ist.

Die muslimische Minderheit Indiens scheint das seit dem Moscheeabriß von Ayodhya im Dezember ohnehin schwer erschütterte Vertrauen in die Zentralregierung vollends zu verlieren. Indien sei angesichts „landesweiter Gesetzlosigkeit“ im Begriff, ein zweites Beirut zu werden, erklärte gestern der Imam der großen Jama-Masjeed-Moschee in Delhi. Überlegungen machen die Runde, den indischen Nationalfeiertag am 26. Januar zu boykottieren. Im islamischen Pakistan wächst Sorge: Premierminister Nawaz Sharif hat das „Leiden der Muslime Indiens“ beklagt; das Botschaftspersonal beider Regierungen im jeweils anderen Land ist reduziert worden – auch als Reaktion auf ein Massaker, das indische Grenzpolizisten vergangene Woche im aufständischen Kaschmir anrichteten.

Im indischen Regierungslager ist eine klare Strategie nicht zu erkennen. Daß, wie eine Erklärung prominenter Persönlichkeiten in Bombay sagt, „Kriminelle, Monster und Tiere in Menschenform die Stadt beherrschen“, hat zur Entsendung von Militär geführt, aber keine politische Initiative hervorgebracht. Der Bundesstaat Maharashtra, dessen Hauptstadt Bombay ist, ist seit dem Rücktritt von Gouverneur Subrananiam am Donnerstag führungslos. Die demokratische Oppositionspartei „Janata Dal“ fordert inzwischen den kompletten Rücktritt der Staatsregierungen von Maharashtra und dem benachbarten Gujarat, in dessen Hauptstadt Ahmedabad ebenfalls schwere Unruhen mit über 40 Todesopfern ausgebrochen sind. In Delhi selbst, wo die Autorität von Premierminister Narasimha Rao schwer angeschlagen ist, scheint bisher nur eine Kabinettsumbildung angestrebt zu werden. Doch schließen manche Beobachter auch vorgezogene Neuwahlen nicht aus.

Neuwahlen würden auf jeden Fall der hinduistischen BJP nützen – Meinungsumfragen geben der Partei, die bei den letzten Parlamentswahlen 1991 111 Mandate gewann, bei sofortigen Wahlen bis zu 170 Sitze, das wäre etwa ein Drittel des indischen Parlaments. Die BJP kann sich insgesamt als Gewinner der Krise fühlen. Nach den Vorfällen von Ayodhya im Dezember war ihre Führung eingesperrt worden; die Gewalt in Bombay bewog die Zentralregierung nun zu ihrer Freilassung – mit vorhersehbaren Ergebnissen: Parteiführer Joshi rief sogleich zum Neubau von Hindu-Tempeln in Ayodhya und anderen umstrittenen Orten auf. Gestern traf sich die BJP-Führung, um ihre politische Strategie festzulegen. Erwartet wurde eine formelle Forderung nach Neuwahlen. Außerdem soll die BJP eine „Siegesparade“ in Delhi planen – ein möglicher Anlaß für eine Ausdehnung der Unruhen auf die Hauptstadt. D.J.