„Ich finde mich fast nie glaubhaft“

Gespräch mit Juliette Binoche, die kürzlich mit dem „Felix“ ausgezeichnet wurde  ■ Von Thierry Chervel

Drei Jahre lang war Juliette Binoche (geb. 1964 in Paris) von der Leinwand verschwunden. Während der immer wieder unterbrochenen Dreharbeiten zu Leos Carax' „Liebenden vom Pont Neuf“ nahm sie keine anderen Engagements an. Am vergangenen Wochenende erhielt sie für diesen Film den „Felix“ als „beste europäische Schauspielerin“ des Jahres 1992. In Berlin startete letzte Woche „Verhängnis“ von Louis Malle nach dem Roman von Josephine Hart (Bundesstart: 14.Januar 1993). Juliette Binoche spielt darin die Rolle der mysteriösen Anna Barton, die eine Affäre mit dem Vater ihres Verlobten anfängt.

Binoches Karriere beim Film begann 1985 mit kleinen Rollen. Ihre erste Hauptrolle hatte sie in André Techinés „Rendez-vous“. Seitdem spielte sie unter anderem in Leos Carax' „Mauvais sang“ und in Philip Kaufmans „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Gerade hat sie die Dreharbeiten zu Krzysztof Kieslowskis neuestem Film beendet.

taz: Nach dem Abenteuer der „Liebenden vom Point-Neuf“ war es sicher eine ganz interessante Erfahrung, einmal wieder einen „normalen“ Film zu drehen.

Juliette Binoche: Die Rolle war ganz anders. Die Rolle in den „Liebenden“ war viel größer – und Leos Carax vertraute mir. Er wollte mich ganz für den Film. Während Louis Malle, der mich nicht kannte, mir eher mißtrauisch begegnete – wie allen Schauspielern. Viele Regisseure sind so, weil sie Angst haben, die Kontrolle zu verlieren. Sie versetzen einen in eine Art Unruhe und Spannung. Ich hatte erstmal Schwierigkeiten, das zu akzeptieren, weil ich mir alleingelassen vorkam. Aber ich habe dadurch auch gelernt. Ich mußte meine Ansprüche zurückstellen. Zuerst hatte ich viele Fragen. Ich wollte auf allen Ebenen an der Suche nach der wahren Person der Anna mitwirken. Und dann hatte ich das Gefühl, daß mir Grenzen gesetzt werden. Aber wenn einem Grenzen gesetzt werden, die man überschreiten kann... Ich bin dadurch gewachsen, glaube ich, durch diese konventionellere Art der Arbeit.

Die „Liebenden“ waren Ihr ganz persönliches Projekt.

In „Verhängnis“ war die Rolle das Projekt. Wir hatten weniger Zeit. Es war anders. Bei Louis gab es zwei, drei Takes, bei Leos spürte man die Ewigkeit.

Malle ist konventioneller.

Naja, aber die Rolle ist nicht konventionell. Eine konventionellere Drehweise macht mir nichts aus. Leos fragte mich, was ich von einer Einstellung halte. Er hatte Lust auf Kritik. Louis hatte keine Lust auf Kritik. Er arbeitet eben anders.

Wie haben Sie die Rolle der Anna angelegt?

Ich habe an Giacometti gedacht. Diese alleinstehenden Figuren, die mit den Füßen in der Erde verankert sind und zugleich in den Himmel ragen. Das war so ein Bild, das ich hatte und das mir auch von der Autorin des Romans bestätigt wurde. Es war wichtig für mich, mit ihr zu sprechen. Ich wollte wissen, ob wir auf derselben Wellenlänge sind. Ich hatte keine Lust, die Rolle zu verraten, denn zwischen dem Roman und dem Drehbuch gibt es große Unterschiede. Aber ich hatte Anna durch den Roman kennengelernt, und das war die Anna, die mich interessierte. Das Drehbuch schien mir klischeehafter. Das Treffen mit Josephine Hart, der Romanautorin, hat mich dann wieder bestärkt. Wichtig war nicht der Text, den ich hatte, sondern wie ich ihn sagte, das, was hinter den Worten durchschien.

Ich habe den Eindruck, daß Sie die Anna mit sehr großer Zurückhaltung spielen, mit einer Art Passivität. Ist das nicht auch ein Risiko? Man ist sich des Effekts viel weniger sicher, als wenn man wirklich agiert.

Anna ist mehr Frau als alle Rollen, die ich zuvor gespielt habe. Sie ist rezeptiver. Sie hat eine passive Macht. Wie viele Frauen in einer Beziehung.

Sie sagen nichts, und doch schaffen sie es, den Lauf der Dinge nach ihren Wünschen und Begierden zu beeinflussen. Aber es stimmt, daß ich am Ende mancher Drehtage frustriert war, weil ich das Gefühl hatte, überhaupt nichts gemacht zu haben. Erst mit der Zeit habe ich akzeptiert, daß nichts tun auch etwas ist.

War dieser Minimalismus Ihre Idee oder die von Louis Malle?

Solche Dinge geschehen von selbst. Sie müssen von Herzen kommen. Ideen sind nur etwas Mentales. Anna trifft keine bewußten Entscheidungen. Sie fängt ja ihr Verhältnis mit Stephen nicht an, weil er der Vater ihres Verlobten ist. Sie liebt Martyn. Aber in Stephen findet sie die Besessenheit wieder, die sie von ihrem Bruder kennt, der aus Liebe zu ihr Selbstmord gemacht hat. Sie handelt intuitiv. Das ist der Grund, warum sie keine Angst hat.

Ich muß zugeben, daß es bei mir nicht funktioniert hat. Es gibt diese entscheidende Szene, wo Anna und Stephen sich kennenlernen. Anna stellt sich ihm vor. Kennenlernen ist nicht das richtige Wort: Sie „erkennen“ sich. Ein langer Blickwechsel, Schnitt/Gegenschnitt, außerdem ist da, glaube ich, noch eine Musik, die die Spannung zwischen den beiden ausdrücken soll. Im Roman kann man ja erzählen, was in den Personen vorgeht, im Kino sieht man nur die Außenseite. Und genau den Eindruck hatte ich hier. Ich sehe die Absicht, die Inszenierung, aber ich stecke nicht drin in der Geschichte. Wie sehen Sie diese Szene?

Wir haben sehr viel daran gearbeitet. Der Drehbuchautor, Dave Marsh, hatte verschiedene Versionen davon geliefert. Sie hatte am Anfang viel mehr Text. Louis hat im Lauf der Zeit immer mehr gestrichen, bis sie am Ende fast ohne Text dastand.

Wie war es bei den erotischen Szenen – hatten Sie Angst davor?

Wenn ich Angst gehabt hätte, wäre alles zusammengebrochen. Ich habe eher gespürt, daß Jeremy und Louis Angst hatten. Und wenn man spürt, daß das Gegenüber Angst hat, muß man eben groß und erwachsen sein und den Leuten Mut machen. Ich sehe sie übrigens nicht als erotische Szenen.

Sie sind eher konvulsivisch.

Gewaltsam, ja. So müssen sie auch sein. Stephen und Anna lieben sich ja nicht, sondern er ist von ihr besessen, und sie läßt es zu. Mir kamen die Szenen eher vor wie Geburten, als würde sie ihn zur Welt bringen. Es ist schmerzhaft, und ein Schmerz, den man akzeptieren muß.

Solche Zweifel, wie Sie sie schildern, konnte ich mir während der Arbeit nicht erlauben, schon wegen Jeremy, der sich beim Drehen viele Sorgen machte. Und wenn da gleich zwei sind, die alles in Frage stellen, wird es für den Regisseur unmöglich. Meine Aufgabe war vor allem, da zu sein, zur Verfügung zu stehen.

Aber, wissen Sie, wenn ich einen Film sehe, habe ich auch immer den Eindruck, daß alles falsch ist. Ihre Reaktion erstaunt mich nicht. Ich finde mich fast nie glaubhaft in meinen Filmen.

Sehen Sie denn Ihre eigenen Filme gerne wieder?

Nein!

Im Fernsehen oder so?

Im Fernsehen werden sie vielleicht fünf oder zehn Jahre nach dem Drehen gezeigt, aber sogar dann finde ich es schrecklich. Alles scheint mir falsch zu sein.

Einfach alles, nicht diese oder jene Szene?

Na, manchmal gibt es schon einen Moment, wo ich sage, na gut, das geht. Aber überzeugt bin ich nie.

Was stört Sie bei den „Liebenden“ zum Beispiel, und was scheint Ihnen gelungen?

Alles kommt mir gespielt vor.

Ist es doch auch.

Ich kann es nicht erklären. Vielleicht habe ich zuviele Zweifel. So bin ich. Ich spüre immer die Anstrengung. Als wäre zuviel Kraft dahinter.

Am Ende, wo ich Denis im Gefängnis besuche, da läuft es von allein, aber selbst da...

Wie sehen Sie den Zustand des französischen Kinos?

Ich gehe nicht oft ins Kino, also kann ich Ihnen eigentlich gar nicht auf die Frage antworten. Die Geschichten sind oft sehr dramatisch, und ich hätte Lust, das Leben manchmal ein bißchen anders zu sehen und mehr darüber zu lachen. Denn zwischen Komödie und Tragödie scheint es mir keine so großen Unterschiede zu geben. Die Komödie treibt die Tragödie nur etwas weiter.

Das französische Kino erdrückt die Geschichten manchmal durch Schwere und Tragik. Ich wünsche mir einen anderen Blick aufs Leben.

Einen realistischeren?

Einen weniger schmerzhaften, eher einen spielerischen.

Sie würden also gern Komödien spielen.

Ich weiß nicht. Im Moment bin ich noch gar nicht richtig aus dem Kieslowski-Film raus, der gerade abgedreht ist. Auch eine Tragödie. Könnten alles Komödien sein, wenn man sie nur etwas weiter treiben würde. Ich möchte die Leute zum Lachen bringen, nicht zum Weinen.

Können Sie ein bißchen über den Kieslowski-Film erzählen?

Es ist der erste Teil der Trilogie „Bleu-blanc-rouge“.

Drei Filme über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit?

Ja. Ich spiele in „Blau“, es geht um Freiheit. Aber die Geschichte werde ich Ihnen nicht erzählen. Lassen Sie sich überraschen.

Ich bin neugierig.

Es ist die Geschichte einer Frau, die bei einem Autounfall ihr Kind und ihren Mann verliert, der Komponist war. Sie ist also völlig allein. Im Lauf des Films stellt sich heraus, daß sie einen großen Anteil an den Kompositionen ihres Mannes hatte, sie hatte sich aber lieber im Hintergrund gehalten.

Endet der Film tragisch?

Kieslowski sagt, er sei Pessimist, was ich ihm nicht ganz abnehme. Auch für Kieslowski endet der Film immerhin mit einer Bewußtwerdung. Für mich gewinnt die Frau am Schluß überhaupt erst die Freiheit, die sie die ganze Zeit gesucht hat.

Und jetzt?

Ich glaube, der Kieslowski-Film ist das Ende einer Phase für mich. Dieses nach innen Gewandte, das ich bisher in allen Filmen gespielt habe. Ich weiß nicht, was ich später mache. Es ist gefährlich, ich weiß. Ich setze einen Punkt.