: Gegen die Flucht
Ein Gespräch mit Hal Hartley, dem Regisseur von „Simple Men“, über das Durchhalten in Suburbia ■ Von Christiane Peitz
taz: „Simple Men“ lief erstmals auf den Filmfestspielen in Cannes im vergangenen Mai. Dort gab es eine Fülle von Filmen über Söhne, die ihre Väter suchen. Was brachte Sie auf das Sujet?
Hal Hartley: Als ich auf der Universität in New York Purchase Film studierte, war mein Nebenfach Literatur, Renaissance-Literatur. Darin ist die Odyssee ein wichtiges Genre, die Suche nach etwas, sei es der Heilige Gral, ein Schatz oder der Heilige auf dem Berg. In der Kunst und der Literatur gibt es eine lange Tradition von Geschichten über Männer, die ihren Vater finden müssen. Als Student habe ich mich viel damit beschäftigt, es faszinierte mich. Die ganze Renaissance-Literatur ist voll davon. Zum Beispiel Boccacios „Decamerone“: Sie verlassen die Stadt und ziehen über Land. Ich schrieb eine Arbeit über „Don Quijote“, eine Art Road Movie, genauso wie Chaucers „Canterbury Tales“: Man ist unterwegs und erzählt sich Geschichten.
Als junger Mann hatte ich damals natürlich eine Menge Schwierigkeiten mit meinem Vater. Ich brauchte Vaterfiguren und suchte sie, wo ich ging und stand. Gleichzeitig wies ich sie zurück. Ich glaube, das ist etwas ganz Normales und bei Frauen nicht viel anders: Man versucht, sich selbst zu finden über die Beziehung zu Vater und Mutter, und dann kommt der Punkt, an dem man zu rebellieren beginnt.
Wie ist Ihr Vater?
Mein Vater ist Bauarbeiter, wie auch meine Onkels und meine Brüder. Ein Mittelständler. Als ich klein war, habe ich ihn bewundert. Alles, was er machte, machte er gut.
Der Vater in „Simple Men“ ist einerseits ein Baseballstar, andererseits ein Anarchist und gesuchter Terrorist. Warum diese ungewöhnliche Kombination?
Es ist ein Versuch, extreme Gegensätze zu versöhnen. Auch dieser Vater macht übrigens seine Sache gut. Er ist ein hervorragender Shortstop und ein guter Anarchist. Die beiden Eigenschaften repräsentieren zwei Aspekte der amerikanischen Kultur. Auf der einen Seite die Heldenverehrung beim Baseball und anderswo: Einer hält sich an die Regeln und gewinnt. Auf der anderen Seite sind die Helden, die die Amerikaner wirklich wollen, Anarchisten. Das Problem dabei ist, daß die meisten unserer populären Helden sehr blasse, homogenisierte, bequeme Anarchisten sind. Der tritt aus der Gesellschaft aus, aber er macht eine gute Figur dabei, ist nett, prügelt sich nie mit den falschen Leuten und beleidigt niemals eine Frau. Ich möchte gerne Geschichten über wirkliche Außenseiter erzählen, die sich auch mal mit den Falschen schlagen und unschuldige Leute beleidigen.
Als Dennis seinen Vater schließlich findet, steht der auf einem Boot und zitiert mit viel Pathos anarchistische Theorien. Eine lächerliche Szene...
... Aber die Sprache ist wunderschön. Das ist Malateste, ein italienischer Anarchist.
Ich bin kein politischer Analytiker... Zunächst wollte ich vor allem die Begeisterung des Mädchens zeigen. Elina, die Rumänin, ist in den Vater verliebt, sie hört wahrscheinlich gar nicht, was er sagt, und vermutlich betet sie ihm seine Sätze jeden Tag nach. Er hingegen glaubt fest an diese Worte, seine Existenz ist darauf gegründet. Er hat eine Überzeugung, und wahrscheinlich macht ihn genau das attraktiv für Elina. Vermutlich kennt sie wenig Leute, die eine Überzeugung haben. Mir geht es ähnlich wie Elina. Auch ich fühle mich von Leuten angezogen, die eine Überzeugung haben, ob diese nun etwas bewirken oder nicht. Die Szene ist lustig und schön zugleich, weil die hohen Ideale darin in gewisser Weise real werden.
Aber gleichzeitig steht da der Sohn, der mit dem Vater reden will...
... Und der Vater sagt: „Moment. Es gibt Dinge, die sind wichtiger, als daß du und ich jetzt miteinander reden.“ Dabei kommt mir diese Bibelszene in den Sinn, in der Maria ihren Sohn aufsucht und sagt: „Wir müssen miteinander reden, was machst du eigentlich?“ Und Jesus sagt: „Mom, ich kann jetzt nicht. Du bist meine Mutter, wir sind eine Familie, aber es gibt Wichtigeres. Manchmal ist die Wahrheit grausam.“
Ich denke auch, es gibt einen Unterschied zwischen Idealen und Ideologien. Wenn Ideale zur Formel verkommen, nach dem Motto: Entweder du hälst dich dran, oder du gehörst nicht zu unserm Club, dann handelt es sich bereits um eine Ideologie. Das ist ja der Grundgedanke der Anarchie: Sobald eine philosophische Methode zu einer Regierungsform führt, ist die Idee schon korrumpiert. Was wir brauchen, sind soziale Strukturen, die keine Regierung brauchen. Ob das möglich ist oder nicht, weiß ich nicht, aber seit Beginn des Menschenzeitalters gibt es immer wieder Leute, die es versuchen, und zuletzt ist es in den sechziger Jahren versucht worden. Es ist immer komisch für mich, mit Leuten zu reden, die ein bißchen älter sind als ich und 68er waren.
Hat Ihr Interesse für die siebziger Jahre ähnliche Gründe wie Ihr Interesse für die sogenannten normalen Leute, die in den New Yorker Suburbs leben und deren Kinder nicht rebellieren?
In den siebziger Jahren wurden die Rebellen der Sechziger Erwachsene und mußten die Rebellion, die sie angezettelt hatten, auswerten und entscheiden, was ihnen etwas bedeutet und was nicht. Sie begannen außerdem, sich in bestimmte Traditionen zu stellen, in andere als die der Eltern, aber in Traditionen.
Ich interessiere mich für die Dynamik einer Situation, in der eine Person ihre Welt nicht verlassen will und sich innerhalb bestimmter Grenzen entdeckt, wiederentdeckt. Immerhin erfinden diese Kinder neu, was all die normalen Dinge wie Arbeiten, Heiraten und so weiter bedeuten. Wie Maria in „Trust“: Sie hat bereits alles in sich, was aus ihr einen faszinierenden Menschen macht. Sie ist jung, kennt sich nicht aus und zieht los mit Hammer und Meißel, um alles Falsche, den Rost, wegzuschlagen. Der Verkäufer im Laden versucht sie zu vergewaltigen, ihr Freund verläßt sie, ihre Mutter lehnt sie ab, ihr Vater stirbt. Das wirft sie in eine Krise, sie verliert alles und muß von vorn beginnen. So erfindet sie sich neu.
Die wahren Abenteuer geschehen innerhalb der Normalität?
Ja. So unwahrscheinlich einige Situationen in meinen Filmen auch sein mögen: Ich bin davon überzeugt, daß sie real sind, nicht naturalistisch, aber wirklich.
Sprechen wir über die Brüder: Warum sind Dennis und Bill, der Intellektuelle und der Gangster, so verschieden?
Das hatte mit den Frauen zu tun. Die Idee, einen Film zu machen über zwei Brüder, die ihren Vater suchen und erst in der Konfrontation mit ihm sich selbst finden und erwachsen werden, hatte ich schon lange. Aber irgend etwas fehlte. Ich legte die Geschichte zu den Akten und drehte „The Unbelievable Truth“, „Trust“ und ein paar Kurzfilme. Dann kam mir die Idee, daß diese so vollkommen verschiedenen Männer während ihres Abenteuers vollkommen verschiedene Frauen treffen. Sie sind auf dem Weg von der Mutter zum Vater, und dazwischen treffen sie Frauen: eine Nonne, ein seltsames Mädchen, die sehr bodenständige Kate und Elina, die mysteriöse Rumänin und Quasi-Terroristin. In der Begegnung mit den Frauen müssen sie sich beweisen.
Sie sind selbst in Lindenhurst, einer der New Yorker Suburbs auf Long Island aufgewachsen. „Trust“ spielt dort, und als die Brüder in „Simple Men“ aus dem Bus steigen, steht der Ortsname auf dem Straßenschild.
Ein Lehrer von mir meint, diese Szene sei die exzessivste in meinem ganzen Filmschaffen (lacht). Jeder, der meine Filme kennt, weiß, Hal Hartley, das ist Lindenhurst. Die beiden steigen aus dem Bus, stehen auf der Wiese, es könnte irgendwo sein, aber da gibt es dieses Schild. Wir haben es extra dorthin gestellt. Eine Vergewisserung, eine Versicherung. Ich wollte es gern schriftlich.
Am Anfang des Films streiten sich die Brüder darüber, ob Long Island nun ein Teil New Yorks ist oder nicht...
... Und „Simple Men“ ist tatsächlich mein erster Film, der nur in Long Island gedreht werden konnte und nur Long Island meint. Alle meine Filme sind von vorstädtischer Erfahrung geprägt; aber die anderen könnten sich durchaus auch in anderen amerikanischen Suburbs abspielen. Deshalb diese genaue Lagebestimmung: Ein Ort wird definiert, seine Entstehung, seine physische Präsenz. Meinen nächsten Film werde ich aber in Amsterdam drehen. Ich bin in den letzten Jahren soviel herumgereist, daß ich mich in Long Island nicht mehr auskenne.
Wie sind Sie selbst aus Lindenhurst entkommen?
Mit dem Filmemachen habe ich auf der Kunsthochschule begonnen, in Boston, Massachusetts, dort habe ich ein Jahr lang Malerei studiert.
Seit wann wußten Sie, daß Sie kein Bauarbeiter werden wollten?
Das wußte ich schon, als ich klein war. Ich wußte, ich würde der Künstler werden. Gut, ich habe Baseball gespielt, aber schon mit zehn Jahren konnte ich malen und spielte Klavier. Meine Eltern wußten, der ist anders. Sie haben mich durchaus unterstützt, allerdings war immer klar, daß ich mein Geld selber verdienen muß. Auf der Kunsthochschule konnte ich aus finanziellen Gründen nicht länger bleiben, ich mußte jobben. Dann habe ich mich an der staatlichen Filmhochschule von Purchase, New York beworben, das ist die billigste und auch eine der besten, denn sie haben sehr strenge Auswahlkriterien. Es war ein glücklicher Zufall; eigentlich wollte ich nur wegen der kostenlosen Filmausrüstung dorthin, aber dann stellte sich heraus, daß es der faszinierendste Ort der Welt war. In meiner Klasse gab es lauter hochinteressante Leute, viele von ihnen sind bis heute meine Freunde. Ich bemerkte, hier kann ich eine Ausbildung bekommen, ich kann lernen, wie man liest. Ich war ein Musterschüler, ich habe den gan
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zen Tag konzentriert gearbeitet. Ich stand morgens früh auf und sagte zu mir, heute lese ich Bertolt Brecht oder ich studiere deutsche Geschichte, und dann habe ich das getan. Es war die beste Zeit meines Lebens.
Wie schaffen Sie es, ein unabhängiger Filmemacher zu bleiben? Ihr erster Spielfilm „The Unbelievable Truth“ hat 75.000 Dollar gekostet, „Simple Men“ zwei Millionen Dollar. Immer noch ein billiger Film.
Es ist ganz einfach. Ich gebe soviel Geld aus, wie ich habe. Die andern können nicht rechnen.
Viele Ihrer Schauspieler stammen ebenfalls von Purchase, Sie arbeiten gerne mit derselben Crew. Brauchen Sie diese familiäre Atmosphäre? Mögen Sie auch auf dem Set nicht das Abenteuer?
Oh doch, ich mag das Abenteuer. Immer wieder mit den gleichen Leuten zu drehen ist sehr abenteuerlich. Mit vertrauten Kollegen kann man sich eher auf neues Gelände wagen. Man muß nicht immer bei null anfangen, nicht alles erklären. Mit Adrienne Shelly Äder, Hauptdarstellerin von „Trust“, damals auch die Lebensgefährtin von Hartley Ü ging das so, auch mit Martin Donovan und mit meinem Kameramann Michael Spiller.
Die Atmosphäre familiär zu nennen ist trotzdem mißverständlich. In einer Familie gibt es bedingungslose Liebe, man kann einander verzeihen und den andern machen lassen, auch wenn er es nicht gut macht. Das geht nicht beim Film.
Ist es nicht schwieriger, einem guten Freund zu sagen, daß er heute schlecht spielt?
Ja. Ich möchte bei der Arbeit keine Kompromisse machen müssen, weil es emotionale Verwicklungen gibt. Filmemachen funktioniert nicht wie eine Maschine. Ich habe keine Geschäftsbeziehung zu den Leuten, sondern es geht mir um ihre individuelle Besonderheit. Ich verliebe mich immer in meine Schauspieler, es ist schrecklich.
Dennoch wird niemals improvisiert, sie arbeiten immer mit einem ausgefeilten Drehbuch. Warum diese Genauigkeit?
Weil die Leidenschaft dann genauer wird. Es ist wie Choreographie, Ballett. Die meisten Filme arbeiten naturalistisch, das finde ich langweilig. 60 Prozent bestehen aus der Suche des Schauspielers nach dem richtigen Ausdruck. Wenn er ihn findet, ist es eine Offenbarung, aber die meiste Zeit verbringt er mit der Suche. Ich möchte gerne, daß jede Geste stimmt und der Schauspieler an sie glaubt. Wir verlegen die Suche in die Proben, und wenn es uns gelingt, ist jeder einzelne Moment ein Moment der Überzeugung. Der Rest, die andern 60 Prozent, sind Furcht und Ängstlichkeit.
Ich gehe alles andere als naturalistisch vor, sondern sehr artifiziell. Schönheit ist das Wichtigste. Ich könnte Gebäude niederbrennen um der Schönheit willen. Aber das Allerwichtigste: Ich will geliebt werden. Wenn meiner Freundin meine Arbeit nicht gefällt, wenn meine Freunde sagen, Hal, das ist Mist, war alles umsonst.
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