Zehn Dollar sind ein Monatslohn

■ In Albanien sind über 60 Prozent der städtischen Bevölkerung arbeitslos

Seit dem Beginn des Zusammenbruchs des stalinistischen Regimes Ende 1990/Anfang 1991 hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage der 3,2 Millionen Albaner erheblich verschlechtert. Das Pro- Kopf-Einkommen im „Armenhaus Europas“ ist zwischen 1990 und 1992 um jährlich jeweils ein Viertel zurückgegangen. Der durchschnittliche Monatslohn beträgt heutzutage rund 1.000 bis 1.200 Lek. Das sind umgerechnet zehn bis zwölf Dollar. Seit der Freigabe der zuvor vom Staat festgelegten Preise im Frühjar des letzten Jahres haben sich jene der Nahrungsmittel vervier- bis verzehnfacht.

Einige Grundnahrungsmittel wie Zucker, Brot, Mehl, Reis und Speiseöl werden zu „kontrollierten“, aber dennoch heraufgesetzten Preisen auf Bezugsschein abgegeben. Allerdings fehlen selbst diese Lebensmittel häufig in den Regalen der staatlichen Lebensmittelläden.

In den neueröffneten Privatgeschäften kann man diese dagegen ohne größere Mühe finden. Dort werden immer mehr Produkte, darunter auch importierte, angeboten. Doch wer kann sich schon eine Flasche Coca-Cola leisten, die ein Zehntel des durchschnittlichen Monatslohns verschlingt?

Über 60 Prozent der städtischen Bevölkerung sind arbeitslos. Die von der Regierung verfügten Massenentlassungen in den Staatsbetrieben, von denen viele aus Rohstoffmangel ihre Produktion einstellen mußten, belaufen sich nach Gewerkschaftsangaben auf rund eine halbe Million Menschen.

Die Regierung ihrerseits spricht von 250.0000 Entlassungen. Die bis zum Sommer 1992 gültige Bestimmung, diesen Arbeitslosen 80 Prozent ihres Lohnes weiterzuzahlen, wurde aufgehoben. Heute müssen sie sehen, wie sie mit 700 Lek über die Runden kommen.

Auf dem Land ist die Situation immer noch angespannt, aber weniger prekär als in den Städten. Dank dem Landgesetz vom Juli 1991, das den 400.000 Bauernfamilien der einstigen Genossenschaften zu eigenem Grund und Boden verhalf, sind nach dem weitgehenden Zusammenbruch der Agrarproduktion im letzten und vorletzten Jahr erstmals wieder steigende Ernteerträge gemeldet worden. Die durchschnittlichen 1,3 Hektar Land reichen jedoch oft nicht aus, den Eigenbedarf einer mehrköpfigen Familie zu decken.

Noch schlechter bestellt ist es um die rund 155.000 Beschäftigten der 216 Staatsfarmen, von denen etliche demoliert oder wegen fehlender Rohstoffe und verrotteter Maschinen stillgelegt worden sind.

Bei den Staatsfinanzen könnte die Lage kaum trostloser sein. Die in wenigen Jahren angehäufte Auslandsschuld, die zu Zeiten von Enver Hodscha strikt verboten war, macht mittlerweile 700 Millionen Dollar aus. Dies entspricht bereits mehr als der Hälfte des Bruttosozialprodukts.

Genauso hoch liegt das Defizit des staatlichen Haushalts. Da die Exporte seit 1990 rückläufig sind, die Einfuhren hingegen stiegen, lag das Defizit 1992 bei fast 700 Millionen Dollar.

Anfang Oktober 1992 bewilligte der Internationale Währungsfonds einen Kredit über 500 Millionen Dollar. Bis Anfang August hatten die westlichen Industrieländer Albanien 970 Millionen Dollar an Hilfe geleistet oder zugesagt. Zwei Drittel davon müssen nicht zurückgezahlt werden. Rund 40 Prozent dieser Gesamthilfe dient der Verteilung von Lebensmitteln und Medikamenten. Für den Zeitraum Juli 1992 bis Juni 1993 schätzt die Europäische Gemeinschaft die erforderliche Lebensmittelhilfe auf 160 Millionen Dollar. Die Bevölkerung verdankt ihr Überleben derzeit in erster Linie dieser ausländischen Hilfe sowie auch der Unterstützung, welche die auf 200.000 bis 300.000 geschätzten albanischen Gastarbeiter an ihre Familien und Verwandten überweisen. Anton Lewis