Die Hauptstadt tickt nicht richtig

Berlins Uhren laufen schneller als im Rest der Republik/ Panikartige Eile herrscht in der Stadt/ Schuld an der Misere: der Strom aus der Ukraine  ■ Von Vera Gaserow

An Selbstbewußtsein hat es den BerlinerInnen noch nie gemangelt. Keine Frage: hier ist man schon qua Wohnsitz immer der Zeit voraus, und daß in der Hauptstadt die Uhren anders gehen als in der Provinz – wer möchte das bezweifeln, ohne Schaden an Leib und Leben zu riskieren? Aber jetzt haben die Berliner den Salat, und plötzlich soll alles gar nicht so wörtlich gemeint gewesen sein!

Seit Anfang Dezember ist Berlin tatsächlich seiner Zeit voraus, und nirgendwo sonst gehen die Uhren so unberechenbar anders: Radiowecker scheppern zu unmöglichster Stunde, Stechuhren bescheinigen permanente Verspätung, zeitgeschaltete Mikrowellen rösten viel zu früh, öffentliche Uhren versetzen in panikartige Eile. Ständig kommt man zu spät – und wartet sich dann doch die Beine in den Bauch, dabei ist man doch erst eine gute Viertelstunde nach Abflugzeit zum Check-in gesprintet. Was mißgünstige Bonner Kreise schon immer geargwöhnt haben, belegt jetzt der bloße Augenschein: Die Hauptstadt tickt nicht ganz richtig. Nicht einmal, wann es vor zwölf ist, weiß man genau. Nur wer schuld ist an dem ganzen Schlamassel, ist sonnenklar: der Osten, wer auch sonst.

Das Chaos mit der Zeit begann schleichend. Zunächst waren es nur einige Minuten, die die öffentlichen Uhren schneller gingen. Hektisch nestelte man an der eigenen Armbanduhr die Zeiger vor. Nach ein paar Tagen wieder dasselbe. Inzwischen hatten auch der Radiowecker und die kleine Uhr im Küchenherd ein anderes Tempo vorgelegt. Flüche auf die langsame neue Digitaluhr wurden ausgestoßen, Uhrmacher zu Hilfe gerufen. Das Rätsel klärte sich allmählich auf: Nicht die eigene Armbanduhr war zu gemächlich, die anderen Uhren hatten es zu eilig. Sämtliche strombetriebenen Zeitanzeiger, darunter auch die Uhren am Straßenrand und auf öffentlichen Plätzen, laufen seit Dezember zu schnell.

Eigentliche Ursache dafür sind exakt 0,2 Hertz. Aber Berlin wäre nicht Berlin, wenn das Uhrenkauderwelsch nicht eine politische Geschichte hätte – und die beginnt 1952. In diesem Jahr, man fröstelt dem Kalten Krieg entgegen, kappt Westberlin den Stromkreislauf; man will vom „kommunistischen“ Strom unabhängig sein. Westberlin wird eine energiepolitische Insel. Kraftwerke sorgen für elektrische Autarkie. Eine Besonderheit, auf die man bei den Berliner Strombetrieben noch heute mit Stolz verweist. Vergleichbares ist schließlich nur noch in Hongkong zu finden.

Doch 1988 beginnt die energetische Mauer zu bröckeln, Deutschland Ost und West verhandeln über einen Stromverbund, Die DDR will sich ans westeuropäische Stromnetz ankoppeln, im Gegenzug soll Westberlin aus der Insellage befreit werden. Eine neue Stromtrasse soll Energie aus dem Westen bringen. Politische und ökologische Querelen innerhalb der rot-grünen Koalition verzögern das Projekt. Als dann die Mauer fällt, werden die Ostberliner Kraftwerksbetriebe vom Westpartner geschluckt. Ein Ausweg lockt. Bis 1994, bis die neue Trasse Energie aus dem Westen bringt, soll zusammenfließen, was zusammengehört: Strom aus dem Osten soll dem Westen aus dem Energieengpaß helfen. Seit dem 1.Dezember nun gibt es eine kleine Notverbindung quer über den Potsdamer Platz, die immer dann Strom aus dem Ostnetz liefert, wenn im Westen gar nichts mehr geht. Aber Strom ist nicht gleich Strom – schon gar nicht, wenn er aus der Ukraine kommt. Denn osteuropäische Generatoren gehen nach wie vor ihren sozialistischen Gang. Mangels Feinsteuerung liefern sie oft 0,2 Hertz mehr als die westeuropäische Norm. Schon diese geringfügigen Frequenzunterschiede bringen die elektrisch betriebenen Uhren aus dem Takt.

Die Ostberliner kennen diese Schwankungen seit Jahren. Sie haben gelernt, elektrischen Uhren zu mißtrauen. Die Westberliner jedoch geraten in Rage. Wütende Briefe über den „Scheiß-Ossi-Strom“ trudeln bei den Elektrizitätswerken ein: Ständig gerate man in Panik, immer sei es schon später, als es wirklich ist. Inzwischen macht sich außerdem eine Nachstellmentalität breit. Betriebe haben Firmen engagiert, die in regelmäßigen Abständen Stech- und Zeitschaltuhren zurückstellen. Auch die öffentlichen Uhren werden ab und an zur Langsamkeit verdonnert. Das macht alles nur noch schlimmer: Nun kann man sich auf gar nichts mehr verlassen – nicht einmal darauf, daß die Uhren notorisch vorgehen. Von Dezember bis jetzt sind die elektrisch betriebenen Chronometer ihrer Zeit schon 40 Minuten vorausgeeilt. Die Zeitspanne wird von Tag zu Tag länger, ein Ende ist nicht abzusehen. Optimisten glauben, das Chaos könne im Sommer behoben sein, doch nach welcher Zeitrechnung mißt sich das? Mancher Präzisionsfanatiker möchte mit der Faust auf den Tisch schlagen und laut losbrüllen: Jetzt schlägt's aber 13. Nur wann genau ist das?