„Das Verfahren gegen die übrigen muß weitergehen“

■ Interview mit Wolfgang Ullmann, ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und heute Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/ Grüne, zur Frage der Aufarbeitung

taz: Herr Ullmann, ist die jetzige Freilassung Erich Honeckers eine erneute Bestätigung der Bohley-Formel: „Wir wollten Gerechtigkeit und erhielten den Rechtsstaat?“

Wolfgang Ullmann: Vielleicht. Aber ich habe ja ohnehin gewisse Vorbehalte gegen diese Formel, weil sie die weitverbreitete Meinung unterstützen könnte, Gerechtigkeit und Rechtsstaat seien zweierlei. Daß die Gerechtigkeit oft sehr schwer einzulösen ist, darin hat Bärbel Bohley sicherlich recht: auch stimme ich mit ihr darin überein, daß die deutsche Justiz dem Rechtsstaat und der Gerechtigkeit vieles schuldig geblieben ist. Wie im Verfahren gegen Herrn Honecker, wobei ich die Rolle der Verteidigung und des Nebenklägers am kritikwürdigsten finde.

Inwiefern die Rolle der Verteidigung?

Weil sie ununterbrochen, statt auf Sachfragen einzugehen, den Gesundheitszustand von Herrn Honecker thematisiert hat und damit in einer unerträglichen Form den Persönlichkeitsschutz verletzt hat.

Es hat mich teilweise angewidert, wie bestimmte Details, seinen Zustand betreffend, in aller Öffentlichkeit und, soviel ich weiß, auch im Gerichtssaal, vor den Ohren Erich Honeckers debattiert wurden. Es verbietet sich, einem Angeklagten so etwas zuzumuten.

Bedeutet das, daß man von Anfang hätte zur Sache verhandeln und die Gesundheitsfrage zurückstellen sollen?

Genau das meine ich. Ich glaube, diese Strategie der Verteidigung hing damit zusammen, daß sie sich der Schwäche ihrer Position in der Hauptfrage – der nach dem Schuldanteil des Herrn Honecker hinsichtlich der Schüsse – bewußt war. Andererseits war die Behandlung der Gesundheitsfrage sicher unumgänglich.

Noch einmal: Alle bemühen das Wort von der Rechtsstaatlichkeit – sowohl die Befürworter der Freilassung wie auch deren Gegner. Entspricht die Freilassung Erich Honeckers aus Ihrer Sicht den Vorgaben des Rechtsstaats?

Insofern es um die Menschenwürde geht, ja. Auch daß Herr Honecker zu seiner Familie zurückkehrt, ist ein ganz normaler Weg. Aber viele Leute in der ehemaligen DDR, zu denen ich selbst gehöre, werden sich natürlich daran erinnert fühlen, in welch hohem Maße die Behörden der DDR solche Normalitäten verhindert haben. Ich selbst konnte meine totkranke Mutter nicht mehr besuchen, obwohl das rechtlich nach der Härtefallregelung auch in der alten DDR möglich war.

Sie nannten den Honecker-Prozeß einmal einen „unerläßlichen Bestandteil der Aufarbeitung“. Was bedeutet für diese Aufarbeitung die Freilassung Erich Honeckers?

Zweierlei ist dabei wichtig. Einmal hat sich auch in diesem Falle gezeigt, daß allein mit dem Strafrecht Aufarbeitung und Aufklärung des Unrechtes und der Unmenschlichkeit nicht gelingt. Andererseits aber ist dieses vorzeitige Ende ein wichtiger Hinweis darauf, daß man die Dinge nicht liegen lassen darf, daß da ein Zeitfaktor mitspielt, der eine gewisse Eile erforderlich macht. Es gibt Dinge, die können wegen der Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit später nicht mehr aufgeklärt werden.

Kann diesem Anspruch nach Aufarbeitung dann überhaupt noch durch den Prozeß gegen die verbliebenen Angeklagten Albrecht, Keßler und Stoph genügt werden, oder ist der Prozeß jetzt endgültig diskreditiert?

In vieler Hinsicht ist er tatsächlich diskreditiert – durch das Verhalten der Verteidiger wie auch des Nebenklägers. Ich kann nur mein Befremden darüber zum Ausdruck bringen, daß eine so wichtige Sache (die Anliegen der Opfer) so schlecht vertreten wird. Man muß natürlich auch sein Bedauern über die Verhandlungsführung des Vorsitzenden ausdrücken, die dann zu seiner Abberufung führte. All das ist wirklich kläglich. Dennoch ist das Ende des Prozesses, die Freilassung Erich Honeckers, kein Freispruch, und deshalb muß das Verfahren gegen die übrigen Angeklagten weitergehen. Vielleicht haben die bisherigen Ereignisse auch dazu beigetragen, daß der Prozeß jetzt etwas anders verläuft. Die Mauerschützenprozesse haben gezeigt, daß das möglich ist.

Ist dieser Ausgang angesichts des ohnehin nachlassenden Interesses an der Aufarbeitung der SED-Vergangenheit eine Zäsur oder gar ein Ende dieser Bemühungen?

Das Desinteresse ist ohnehin eingetreten. Die Leute haben mittlerweile andere Sorgen. Was sich jetzt abspielt, kann man gut verstehen, wenn man es mit dem vergleicht, was vor einem Jahr los war, als in der Gauck-Behörde die Akteneinsicht möglich wurde und alle Medien voll waren von Sensationsberichten. Dieser Umgang war im ganzen schmählich. Dem habe ich entgegenzuwirken versucht, was aber leider nur in sehr geringem Umfang gelungen ist.

Bedeutet das Ende des Honecker-Prozesses demnach ein erneutes Umdenken für ihr Engagement?

Ja, durchaus, aber in dem Sinne, daß mir jedenfalls deutlich wird, wie wichtig und unumgänglich die Aufarbeitung ist. Aber auch, daß man es ganz anders machen muß, als bisher geschehen. Interview: Julia Albrecht