Wohlstandseuphorie teuer bezahlt

■ In Ostberlin werden immer mehr Haushalte mit den negativen Folgen der Konsumgesellschaft konfrontiert: Zahl der überschuldeten Familien wächst rapide

Berlin. Die Ostberliner Krankenschwester K., alleinerziehende Mutter, hat ein monatliches Nettoeinkommen von 1.500 Mark. 800 Mark davon gehen für Miete, Energie, Versicherungen und Rundfunkgebühren ab.

Von den übrigen 700 Mark muß sie nicht nur den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind bestreiten, sondern auch noch die Tilgungsraten für die Waschmaschine, die letztjährige Sommergarderobe, den Kinderwagen und die Couchgarnitur. Kommt jetzt noch eine Ausgabe außer der Reihe dazu, und sei es für die Überkronung der schadhaften Schneidezähne, so gerät Frau K. mit ihren Ratenzahlungen in Verzug.

Der Dispokredit auf dem Girokonto ist schnell ausgeschöpft, und die Bank stoppt die Daueraufträge, so daß die Wohnungsbaugesellschaft den monatlichen Mietzins nicht mehr erhält. Nach zwei Monaten Mietrückstand droht ihr dann auch noch die Wohnungskündigung.

In diesem Stadium der Verschuldung befinden sich viele der Hilfesuchenden, die bei Michael Zatkos in der Schuldnerberatung des Diakonischen Werkes in Berlin-Mitte vorstellig werden. Bei 10.000 bis 15.000 Mark liege die Verschuldung seiner Klienten im Durchschnitt, erklärt der Diplomkaufmann.

In Westberlin stehen die meisten Schuldner, die eine Beratungsstelle aufsuchen, sogar mit etwa 40.000 Mark in der Kreide, schätzt Hans Gimmel vom Arbeitskreis „Neue Armut“, der seine Beratung in Neukölln anbietet. „Die Westdeutschen hatten schon länger Zeit, an ihrer Schuldenkette zu basteln“, erklärt Schuldnerberater Lothar Franz diesen Unterschied. Setzen sich die durchschnittlich acht Gläubiger der Westschuldner in der Regel aus Banken, Versandhäusern und öffentlichen Stellen zusammen, so heißen die Gläubiger im Osten meist Quelle, Neckermann und Schöpflin.

Aber auch Versicherungsvertreter und Zeitschriftenverkäufer aus den sogenannten „Drückerkolonnen“, die nach der Wende über Land zogen, hätten einen großen Anteil an der Verschuldung im Osten, führt Zatkos aus.

Etwa 30 Schuldnerberatungen gibt es derzeit in Berlin. In den Gesprächen, die in den seltensten Fällen kürzer als eine Stunde dauern, stellen die Berater genaue Kalkulationen über Einnahmen und Ausgaben der Betroffenen an und schreiben wenn notwendig sogar die Gläubiger an.

Vor allem versuchen sie, eine Zwangsvollstreckung zu verhindern. Viele der BürgerInnen aus den neuen Bundesländern hätten einen Nachholbedarf in bezug auf die Konsumgüter des Westens, aber die Ausgaben vorher nicht genau durchkalkuliert und dann den Überblick verloren, erklärt Zatkos.

Noch zehren nach Ansicht von Lothar Franz viele der Ostdeutschen von ihren vor der Wende angesammelten Sparguthaben. Mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit und den steigenden Lebensunterhaltskosten sei aber eine deutliche Verschärfung der ökonomischen Situation zu erwarten.

Pessimistisch ist auch die Prognose des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Nach Einschätzung des Bundesvorstandsmitgliedes Wilhelm Adamy steigt die Verschuldung der ostdeutschen Haushalte weit schneller als bei den Westdeutschen.

Ein Drittel der ostdeutschen Haushalte hätte seit 1990 einen Kredit über durchschnittlich 23.000 Mark aufgenommen, die meisten davon mit langen Laufzeiten, ergaben die Recherchen Adamys. Gerade die langfristigen Kredite könnten aber sehr schnell zur Überschuldung führen. Unvorhergesehene Ereignisse wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, längere Krankheit oder eine Ehescheidung führen dann häufig zur Zahlungsunfähigkeit.

Mindestens 15.000 Berliner in Ost und West sind nach Schätzungen von Experten zahlungsunfähig und stehen jetzt schon vor dem Ruin. Obwohl höchstens jeder zehnte Überschuldete sich an die Beratungsstellen wendet, sind die Einrichtungen überlastet.

Bei der Beratungsstelle des Diakonischen Werkes, die mit etwa 1.000 telefonischen Beratungsgesprächen und etwa 120 „Stammkunden“ pro Jahr zu den meistbesuchten Anlaufstellen gehört, ist mittlerweile sogar schon die Warteliste voll.

Auch die Verbraucherzentrale, die in fast allen Westberliner und in einigen Ostberliner Bezirken Beratung anbietet, führt Gespräche nur nach vorheriger telefonischer Anmeldung. „Und die Tendenz ist steigend“, meldet auch Gimmel vom Arbeitskreis „Neue Armut“.

Nach Aussage der Sozialsenatorin Ingrid Stahmer werden neuerdings auch die Mitarbeiter in den Sozialämtern zunehmend für Schuldenberatung geschult. Es sei „dringend erforderlich, daß ein flächendeckendes Netz von Schuldenberatungsstellen eingerichtet und öffentlich gefördert“ werde, fordert Adamy vom Deutschen Gewerkschaftsbund.

Adressen von Beratungsstellen:

Diakonisches Werk, Wilhelmsaue 39-41, W-1000 Berlin 31, Telefon: 8218078, nach telefonischer Anmeldung, oder Waisenstraße 28, O-1026 Berlin, donnerstags von 9 bis 13 Uhr

Verbraucherzentrale, Bayreuther Straße 40, W-1000 Berlin 30, Telefon: 219070, oder Allee der Kosmonauten, 1140 Berlin, Telefon: 5426032; in den Bezirken nach telefonischer Anmeldung

Arbeitskreis Neue Armut, Hobrechtstraße 18, W-1000 Berlin 44, Telefon: 6249032

Anne-Katrin Koppetsch