Von Störfäll zu Störfall

■ Osteuropas Energieverbrauch ist gesunken, doch die Risiko-Akw laufen weiter

Anfahren, abschalten. Anfaaahren, abschalten! Ganz langsam und vorsichtig aaanfaaahren, klack. Der ReaktorblockII im bulgarischen Akw Kosloduj steht wieder still. So geschehen am Sonntag vor einer Woche. Radioaktiver Dampf war aus einer Leitung gezischt. Die Werkssprecherin – vom Westen inzwischen gut trainiert – teilte mit, daß „keinerlei Gefahr für die Umwelt“ bestanden habe. Die freigewordene Radioaktivität liege „gut unterhalb der Grenzwerte“.

Die sechs Reaktoren von Kosloduj sind traurig berühmt für ihre Störfallserien. Auch in diesem Winter haben die staatlichen bulgarischen Betreiber der Atommeiler häufiger den Nothebel bedienen müssen. Doch genau wie die Behörden in anderen osteuropäischen Staaten glauben die Bulgaren, nicht auf die Akw verzichten zu können. 40 Prozent des Stroms kämen dort her, wiederholen sie gebetsmühlenhaft. Aber nur wenn alle Reaktoren in Betrieb wären, muß man ergänzen: Derzeit sind es gerade die Hälfte.

Die Atomkatastrophe lauert dabei allerorten. Wie schon in den vergangenen Jahren gilt auch in diesem Winter: „Es läuft alles, was verfügbar ist.“ Auch David Kyd von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien ist nicht ganz wohl beim Gedanken an die fast 60 ächzenden Schrottmeiler in Osteuropa. Während die IAEA aber bei den Ungarn, Tschechen und Bulgaren zumindest ungefähr weiß, was sich tut, weiß sie das in Rußland noch lange nicht: „Die schicken uns nicht regelmäßig Berichte.“ In Litauen, so Kyd, hätten „sie immer noch Probleme mit ihren beiden RBMK- Reaktoren“. Diese Reaktoren vom Tschernobyl-Typ fahren sich wie ein wirklich altes Auto, beruhigte Kyds Chef, IAEA-Präsident Hans Blix, sein skandinavisches Publikum vor Monaten. Sicher seien sie nur, wenn man besonders aufpaßt. „Sie können einen 1928er Ford lange fahren, wenn sie ihn vernünftig warten und langsam fahren.“

Die Russen kennen keine 1928er Fords. Ihre Reaktoren neigen selbst beim Langsamfahren zu Motorschäden. Im November legte ein Kurzschluß den 440-Megawatt-Reaktor Kola1 lahm – und das obwohl der Reaktor nur bei drei Prozent seiner Leistungsfähigkeit lief. Der Störfall in dem mit den Greifswalder Meilern baugleichen Reaktor war sogar ziemlich gravierend. Er wurde auf der neu geschaffenen INES-Skala auf Stufe zwei eingeordnet. Genauso gravierend hatte die russische Regierung den Beinahe-GAU von Sosnowy Bor bewertet.

Der Unfall wurde erst Wochen später bekannt. Handfeste Informationen, welche Risikomeiler in Rußland gerade aktuell in Betrieb sind, hat selbst Greenpeace nicht. „Wir können einfach keine verläßlichen Daten über Rußland bekommen“, klagt Antony Froggat von Greenpeace International. Froggat nimmt aber an, daß die Russen alle elf Reaktoren des Tschernobyl-Typs wieder am Netz haben. Im Sommer waren nach dem Unfall von Sosnowy Bor zeitweise sieben der Reaktoren zur Nachrüstung abgeschaltet. Damals bestätigte auch der russische Umweltminister Viktor Danilow-Danillian, daß die RBMKs nur ein überflüssiges Risiko darstellen. Sechs Prozent des russischen Stroms werden in Reaktoren des Tschernobyl-Typs erzeugt, zwölf Prozent des russischen Stroms waren 1991 Atomstrom. Die Wirtschaftskrise und die verringerten Stromlieferungen an die früheren Partner des Warschauer Vertrages müßten ausreichen, um zumindest auf die RBMKs verzichten zu können.

Nicht so groß wie in früheren Jahren sind zum Beispiel auch die Energieprobleme in Bulgarien. Obwohl der Winter bitterkalt ist, hat es in Bulgarien in diesem Winter bislang keine regelmäßigen Stromabschaltungen gegeben. Dabei gibt es nach Auskunft staatlicher Stellen sogar einen erhöhten Strombedarf der privaten Haushalte.

Der Westen ist weder unbeteiligt an der ganzen Malaise in Osteuropa noch ist er selbst vor eigenen Atomkatastrophen sicher. Der ReaktorII in Kosloduj, der derzeit laufend an- und abgeschaltet wird, ist gerade 14 Monate lang saniert worden – mit Hilfe von Experten des Internationalen Verbands der Atomkraftwerksbetreiber (WANO). Die EG hatte aus ihrem PHARE-Programm einige Millionen Ecu zur Verfügung gestellt, französische Atomingenieure hatten die Reaktormannschaften trainiert, und aus Greifswald waren Reaktorersatzteile im Neuwert von 19 Millionen Mark nach Kosloduj gegangen. So ziemlich die einzige deutsche Hilfe für die Bulgaren: Für die Unterstützung der Energiepolitik sei man nicht zuständig, heißt es lapidar im Umweltministerium. Das sei Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers. Die Franzosen, die beim Training der bulgarischen Reaktormannschaft die Patenschaft übernommen haben, kämpfen derweil mit tiefen Rissen in zwei Dritteln ihrer eigenen Reaktorkessel. Minderwertiges Material: Stahllegierungen in den 52 Druckwasserreaktoren rosten an zentralen Stellen vor sich hin. Minderwertige Wartung: Der Schaden ist erst nach vielen Jahren entdeckt worden.

Inzwischen läuft der ReaktorII in Kosloduj zwar wieder mit halber Kraft. Dafür ist am Montag abend bei einem Brand im tschechischen Atomkraftwerk Dukovany ein Arbeiter schwer verletzt worden. Die Feuerwehr brauchte eine Stunde, um den Brand zu löschen. Am Dienstag abend brannte es dann in Tschernobyl. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag brach im ReaktorI des vorübergehend stillgelegten schwedischen Akw Ringhals bei Göteborg ein Feuer aus. Wo es in der Nacht von Donnerstag auf Freitag brannte, war bei Redaktionsschluß nicht bekannt. Hermann-Josef Tenhagen/

Ralf Petrov