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Leicht gebremst zum Weltkonzern

Siemens will zwar immer noch zum größten Elektrokonzern der Welt werden, aber nicht sofort/ Die „Bank mit Elektroabteilung“ wächst durch die Zinsen ihres Geldvermögens  ■ Von Donata Riedel

Berlin (taz/dpa) – Europas größter Elektrokonzern will sich die Welt etwas langsamer erobern. Expansion, so die neue Erkenntnis des neuen Vorstandschefs der Siemens AG, Heinrich von Pierer, kommt teuer, schmälert also den Profit. Und weil außerdem im ersten Quartal des neuen Geschäftsjahres 1992/1993 (seit 30. September) acht Prozent weniger Aufträge hereinkamen, „wird es größter Anstrengungen bedürfen, um den Jahresüberschuß zu halten“, sagte Pierer gestern bei der Pressepräsentation der Bilanz für das vergangene Geschäftsjahr.

Der Gewinn der Siemens AG, die in 300 Geschäftsfeldern vom Radiowecker über Computer und Herzschrittmacher bis zum Atomkraftwerk so ziemlich alles herstellt, was nur irgendwie mit Strom zu tun hat, war 1991/92 noch um neun Prozent auf 1,96 Milliarden Mark gestiegen, bei einem Umsatz von 78,51 Milliarden DM. Ein Großteil des Gewinns stammt allerdings aus dem Wertpapier- und Geldvermögen von 19,7 Milliarden Mark, das Siemens (vor Steuern) 1,86 Milliarden DM an Zinsen eintrug. Das Geldpolster hatte Pierers pensionierter Vorgänger Karlheinz Kaske in Boom-Zeiten angespart, auf daß der Konzern bei abgekühlter Konjunktur nicht Not leiden müsse. Das eigentliche Geschäft, die „Elektroabteilung der Bank“ (Branchenspott), erbrachte vor Steuern ein von 3,42 auf 3,20 Milliarden DM rückläufiges Ergebnis. Daß Siemens laut Pierer „schneller, besser und kostengünstiger“ werden will, trifft neben den zu entlassenden Beschäftigten auch die Deutsche Bank. Die größte Bank der Republik durfte bislang den Siemens-Geldsee hüten und die entsprechenden Gebühren abschöpfen. Künftig soll eine diese Woche gegründete Siemens Kapitalanlagegesellschaft mbH das Vermögen im Hause selbst mehren. Nur „aus organisatorischen Gründen“, wie man bei Siemens höflich gegenüber der Hausbank betont.

Nachdem sich Siemens in den letzten Jahren die neuen Bundesländer erobert und eine gute Ausgangsposition für die wohl noch länger verlustträchtigen Märkte Osteuropas geschaffen hat, will sich das Unternehmen künftig auf Südostasien konzentrieren – jene Weltgegend, für die kurz- bis mittelfristig die höchsten Wirtschaftswachstumsraten geweissagt werden. Dort jedoch könnte dem Konzern auch neue Konkurrenz im ohnehin schwierigen Computergeschäft erwachsen. Die Chip-Produktion und die Siemens-Nixdorf- Computer sollen 1991/92 zusammen 1,3 Milliarden Mark Verlust eingespielt haben (bei 15 Milliarden DM Umsatz). Der geplante Arbeitsplatzabbau soll daher vor allem diese Bereiche treffen.

Mit dem Stellenstreichen hat Siemens bereits im vergangenen Jahr begonnen und die Zahl der Arbeitsplätze um 17.000 auf weltweit 410.000 verringert. Weitere 10.000 bis 15.000 Stellen sollen nach Pierers Angaben bis 1995 wegfallen. In Expertenkreisen kursiert eine von Siemens dementierte Zahl von 30.000 Arbeitsplätzen, die dem „Fitneßprogramm“ des passionierten Tennisspielers Pierer zum Opfer fallen sollen.

Laut Geschäftsbericht sollen quer durch das gesamte Unternehmen die „Ablaufprozesse beschleunigt“ werden. Denn die Arbeitsweise des vor 146 Jahren als „Telegraphen Bau-Anstalt Siemens & Halske“ gegründeten Privatunternehmens erinnert häufig an die ihres wichtigsten Auftraggebers Bundespost – gerade in der Sparte „Öffentliche Kommunikation“, die bei 14 Prozent des Umsatzes 62 Prozent zum Gewinn der „Elektroabteilung“ beisteuert.

Die gute alte Post-Verbindung ist für den Weltkonzern zur Auftragsakquise nach wie vor unverzichtbar. Ohne sie wäre die vor drei Jahren weitgehend telefonfreie Ost-Zone kaum für den heute größten neufünfländischen Westinvestor zum lukrativen Geschäft geworden. Für viele der Bonner Ostmilliarden baute und baut Siemens Telefonvermittlungsstellen. Außerdem elektrifiziert der Konzern die Reichsbahn, deren Verkehr mittels Siemens-Signalleuchten gelenkt wird. Auch die maroden ostdeutschen Kraftwerke werden mit den Gas- und Dampf-Turbinen der Siemens-Tochter Kraftwerksunion (KWU) umweltverträglicher modernisiert.

Der gute Draht nach Bonn funktioniert auch beim Osteuropa- Geschäft. So gründete die Telekom ein Joint-venture mit der Ukraine zwecks Telefonnetz-Modernisierung. Und während die ebenfalls am Joint-venture (und damit am Risiko) beteiligte US- Telefongesellschaft AT&T in 13 Provinzen Vermittlungsstellen installieren soll, darf Siemens ohne jedes Risiko im Auftrag der Telekom die übrigen zwölf ukrainischen Verwaltungsbezirke bestücken. Öffentlich finanziert ist ebenfalls das EG-Programm „Technische Hilfe GUS“, das immer mehr zum reinen Reparaturprogramm für marode Ost-AKW wird. Nutznießer: die französische Framatome und Siemens-KWU.

Die Siemens-Aktionäre haben also keinen Grund, auf der Hauptversammlung am 11. März die Osteuropa-Expansion als zu risikoreich zu tadeln. Für das abgelaufene Geschäftsjahr sollen sie eine unveränderte Dividende von 13 DM je 50-Mark-Aktie bekommen.

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