„Gerechtigkeitslücke“ bei Unternehmen

■ Die geplanten Kürzungen für den Solidarpakt berücksichtigen die Einkommensentwicklung nicht

Berlin (taz) – Eine der Wortkreationen, die Politiker in der Debatte um den Solidarpakt geschaffen haben, ist die sogenannte Gerechtigkeitslücke. Entdeckt hat sie der Minister für Arbeit und Soziales, Norbert Blüm. Er findet es ungerecht, daß Arbeitnehmer und Arbeitgeber über ihre Sozialversicherungsbeiträge Milliarden Mark für die deutsche Einheit bezahlen, Beamte, Selbständige und MinisterInnen aber nichts.

Eine „Gerechtigkeitslücke“ machte dann auch die FDP aus, aber woanders. Im Blick auf die Gerechtigkeitslücke sei eine Reduzierung der Sozialhilfe geboten, meinte der FDP-Bundestagsabgeordnete Walter Hitschler. Denn ein System, in dem die Bezieher von Sozialleistungen bessergestellt seien als manche ArbeitnehmerIn, führe „zu einer Erziehung zum Nichtstun“. Auch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) des DGB stellte fest, daß die unteren Arbeitseinkommen in Relation zu Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nicht stimmig sind, zog daraus aber eine ganz andere Schlußfolgerung. Es empfahl, die Relationen der unteren Einkommen der Einkommenspyramide neu zu ordnen.

Die Entdeckung der Gerechtigkeitslücke suggeriert, daß sich PolitikerInnen um Gerechtigkeit mühen; doch angesichts der Verteilung des Reichtums kann – und zwar nicht erst seit der Einheit – von Gerechtigkeit keine Rede sein. Ein Blick auf die Entwicklung der Einkommen von SozialhilfeempfängerInnen zeigt, daß sie von 1977 bis 1983 erhebliche Kaufkraftverluste hinnehmen mußten. Zwar stieg der Regelsatz der Sozialhilfe von 287 Mark im Jahr 1977 auf 342 Mark 1983, aber real sank die Kaufkraft in diesem Zeitraum um 7,6 Prozent. Erst ab 1983 wurde die Sozialhilfe wieder so erhöht, daß die Kaufkraft stieg, dennoch ist die Kaufkraft im Vergleich zu 1977 insgesamt nur um 10,2 Prozent gestiegen.

In seinem Bericht zur Entwicklung der Einkommensverteilung 1991 stellt Claus Schäfer vom WSI fest, daß Arbeitnehmer real 0,5 Prozent ihres Einkommens einbüßten – und das trotz einer durchschnittlichen Tariferhöhung von sechs Prozent. Die Einbußen sind zum einen auf die höhere Preissteigerungsrate zurückzuführen, die von 2,7 Prozent (1990) auf 3,6 Prozent (1991) stieg, aber auch auf die Lohnsteuer, die sich von 16,2 Prozent 1990 auf 17,9 Prozent ein Jahr später erhöhte. Außerdem erreichten die Sozialabgaben mit 14,6 Prozent den Höchststand seit 1980.

Auch im Osten blieb trotz erheblicher Tariferhöhungen vom Zuwachs real wenig übrig, da sich im Verlauf des Jahres 1991 die Lebenshaltungskosten um rund 20 Prozent erhöhten. Vollzeitbeschäftigte ArbeiterInnen hatten im Oktober 91 im Vergleich zum Januar je nach Branche zwischen 1,0 bis 24 Prozent real weniger Einkommen. Bei den ArbeiterInnen erzielten die Beschäftigten nur in zwei Branchen einen realen Einkommenszuwachs, bei den Angestellten waren es immerhin zwei Drittel. Die steigenden Preise dürften die Empfänger von Arbeitlosengeld oder Sozialhilfe jedoch hart treffen.

Die tatsächliche „Gerechtigkeitslücke“ dürfte jedoch bei den Unternehmen liegen. Die Netto- Unternehmensgewinne betrugen in den alten Bundesländern 1990 16,6 Prozent, 1991 8,1 Prozent. Der Anteil der durchschnittlichen Steuerbelastung der Unternehmen sank von 33,6 Prozent im Jahr 1980 bis 1991 auf 21,2 Prozent. Selbst die Deutsche Bundesbank stellt fest, daß sich seit 1980 nicht nur die Gewinne der Unternehmen deutlich erhöht hätten, sondern auch ihre Liquidität. Dem steht eine außerordentlich geringe Investitionsfreudigkeit in den neuen Ländern gegenüber. Eine weitere Senkung der Unternehmenssteuern ist für Claus Schäfer daher nicht akzeptabel. Im Gegenteil müßten wegen der fehlenden Investitionsbereitschaft über höhere Unternehmersteuern Gelder für die neuen Länder abgeschöpft werden. Dorothee Winden