Nachschlag

■ Blick mit Widerhaken – zu einer Lesung von Richard Wagner

Der im rumänischen Banat geborene und aufgewachsene Richard Wagner zählt zu den profiliertesten rumänien-deutschen Autoren. Nach den üblichen Schwierigkeiten mit dem Regime verließ er 1987 das Land und lebt seitdem in Westberlin. Im Brecht-Haus in Weißensee, dessen ungeheizte Räume westlichen Edel-Körpern zumindest etwas balkanische Atmosphäre vermitteln konnten, las am Donnerstag abend Wagner aus seinem jüngsten Buch „Der Himmel von New York im Museum von Amsterdam“ (Frankfurter Verlagsanstalt, 1992).

Man bekam Kurzprosa zu hören, sehr präzise, nie Wirklichkeit nur abschildernd, aber auch nicht verliebt ins Spielerische als Selbstzweck. Wie geht einer, der im Osten sehen gelernt hat, durch den Westen? Diese Frage beschäftigt Richard Wagner noch immer, und die absurd-treffenden Antwortversuche in seinen knappen Sätzen erstaunen in der Tat. Hier ist keiner, der Klischees über die kalte Westwelt kolportiert, hier wird nicht penetrant die vermeintliche tiefere Empfindungsfähigkeit der gebeutelten Ostmenschen propagiert. Richard Wagners Blick ist ein Blick mit Widerhaken, seine Betrachtungsweise des Westens schließt den Betrachter immer mit ein. Und der hat im Osten gelernt, genau hinzusehen, den Augenschein auf seine Substanz hin abzuklopfen. Wie Wagner dann einen Imbißstand beschreibt, das Vorprogramm eines Kinos oder die Reaktion von Passanten auf einen Straßensänger – das verrät ein Wachsein, einen Respekt vor dem Individuum, das im besten Sinne als frag-würdig eingestuft werden kann. Diese Prosa will keinesfalls lautstark bekehren, setzt aber doch ein notwendiges Korrektiv gegen eine westliche Umwelt, die auch darum fast alles toleriert, weil sie fast alles ignoriert.

Leider kam man bei der nachfolgenden Diskussion nicht darauf zu sprechen, es überwogen Fragen nach der aktuellen Situation in Rumänien. Richard Wagner, der 1991 bei Rotbuch einen politischen Essayband über die Entwicklung nach 1989 veröffentlichte, konnte wenig Erfreuliches berichten. Die Nomenklatura hält die alten Positionen, der Geheimdienst wurde umbenannt, der alte neue Präsident regiert autoritär, das Fernsehen ist ebenso gleichgeschaltet wie die allgemeine politische Öffentlichkeit absolut unterentwickelt. Wagner verwies auf ein Phänomen, das die Balkanstaaten schon nach dem Ersten Weltkrieg prägte: das Bestehen eines formal bürgerlichen Staates, der aber weder durch Gesetze oder ein Rechtsbewußtsein zusammengehalten wird, sondern eher durch mafiöse Verbindungen und spätfeudale Verbindlichkeiten.

Die Rolle der Intellektuellen verglich er schließlich mit der in Serbien, wo sich auch Stalinismus ungeheuer schnell auf puren Nationalismus umgestellt habe. Das hätte nochmals zu Nachfragen gereizt, scheiterte aber an der Rache des Heizers. Ein kalter Abend im Brecht-Haus, an dem aber keine Minute reute. Marko Martin