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Rock goes Lehrstuhl

■ In Berlin kann Popmusik ab dem Sommer studiert werden – Bei Professor Wicke

Von Glamour keine Spur. Das Dienstzimmer von Peter Wicke ist mehr als nüchtern, an den Wänden gerade mal ein olles Ina-Deter-Poster und eins mit Conny Froboess und – doch, das muß er sein – Peter Kraus (in Großbuchstaben: „Aufstand in der Tanzdiele“); daneben ein Promo-Plakat zu Sandie Shaws Kooperation mit den Smiths („Hand in Glove“), das ist das Äußerste. Überhaupt scheint sich in dem historischen Gebäude gegenüber dem Pergamonmuseum eine gewisse Plaste-und-Elaste-Atmo mit gesamtdeutschem Institutsstubenstaub ohne größere Probleme zu verbrüdern. Neben dem Kaffee, der für alle bereitsteht, gibt es Gläser mit kaffeeweißer Marke „Completa“ („der feine Löffel zum Kaffee“). Komplettieren muß man selbst.

„Erstaunt“ sei man in seinem Hause ein wenig über das rege Interesse, sagt Dr. Wicke zur Eröffnung. Und tatsächlich: die Leute stauen sich bis in den Flur, reges Medieninteresse, wie man so sagt. Es muß ein wenig an der dpa-Meldung, „Priorität 4“, liegen (die Gewichtsklasse von mittleren Theaterskandalen und Literaturpreisen), die in den Redaktionen eingetroffen ist, aber irgendwie auch am Gegenstand. Schließlich wird nicht jeden Tag ein Lehrstuhl für Popmusik auf den Weg gebracht. Genaugenommen wird hier in Berlin sogar Pionierarbeit geleistet. Zum Sommersemester richtet die Humboldt-Universität als „weltweit erste Hochschuleinrichtung“ (dpa) eine Professur für populäre Musik ein. „Damit“, so weiter im Tickertext, „wird Popmusik als Gegenstand von Forschung und Lehre erstmals auch formell in akademische Strukturen integriert.“

Klingt nicht übel, ist so aber nicht ganz korrekt. Schon vor seiner Berufung zum Professor war Wicke Leiter des Forschungszentrums für populäre Musik an der Humboldt-Uni. Seit 1983 existiert dieses Institut (als Unterabteilung der musikwissenschaftlichen Fakultät), und schon damals handelte es sich – einer Selbstdarstellung zufolge – um die „weltweit erste Einrichtung ihrer Art mit dem Ziel, Forschung und Lehre auf dem Gebiet der populären Musik einen institutionellen Rahmen zu geben“. Bereits zu DDR-Zeiten schrieb Peter Wicke eine „Anatomie des Rock“ (1987) sowie ein keineswegs dünnes Buch „Zur Ästhetik und Soziologie eines Massenmediums“ (ebenfalls 1987). Und an diesem Grund-Approach hat auch die Wende nichts geändert – schließlich ist Rock im Systemvergleich ja doch ein überwiegend internationales Phänomen –, allenfalls die Titel wurden etwas englischer, hießen zuletzt etwa „Bigger than Life – Rock und Pop in den USA“ (1991).

Auf die Frage, was sich im Vergleich zu früher durchschlagend ändern wird, weiß der designierte Professor denn auch wenig Antwort. Man hat einen institutionellen Sprung nach vorne gemacht, das ja, ansonsten wird die Forschungsarbeit kontinuierlich fortgesetzt. Wie man sich das vorzustellen hat? Möglichst ohne Scheuklappen. Das Forschungszentrum für Populäre Musik versteht sich als interdisziplinäre Einrichtung, die ihre Methoden im Prozeß der Aneignung des Gegenstands entwickelt – statt über sie zu verfügen. Außerdem, so der in Sachen Rock ergraute Wicke, müssen erst einmal die Voraussetzungen für schnellen Materialzugriff geschaffen werden. Mit derzeit vier Mitarbeitern wird versucht, die Kontakte zu Plattenfirmen, Archiven, Info-Zentren und anderen „gegenstandsbezogenen“ Einrichtungen zu verbessern. Rund 150 Studenten hat man zur Zeit, aber die Entwicklung, die der Studiengang ab dem Sommer nehmen wird, sei „unabsehbar“.

Klar ist immerhin, daß es im ersten Semester mit ordentlicher Professur neben einführungsartigen Allgemeinkursen auch sogenannte „Spezialveranstaltungen“ zu Themenbereichen wie „Frauen im Rock“ oder „Star und Starkult“ geben wird. Als sicher anzunehmen ist auch, daß ein nicht unwesentlicher Anteil der Kosten aus sogenannten Drittmitteln (Geldern aus der phonographischen Wirtschaft) bestritten wird. Entsprechend praxisorientiert plant man, die Forschungsergebnisse langfristig wieder „sowohl in die Ausbildung von kompetenten Musikfachleuten umzusetzen als auch in die kommunal-, jugend-, medien- und kulturpolitische Praxis einfließen zu lassen“, sprich: der Rockmusiker, bisher ein halbwegs übel beleumundeter Gesell, soll endlich zum vollwertigen Sozialpartner werden. Als mündiger Bürger partizipiert er an Förderstrukturen, Kulturfonds und anderen kommunalen wie bundesweiten Mitteln – Wirtschaftsprogramme nicht ausgeschlossen.

Wicke, das ist am Ende klar, weiß seine Materie zu verkaufen. Er führt einen manierlichen Diskurs über seinen ehemals unmanierlichen Gegenstand, und die subversive Kraft des Rock, die darin so wenig Platz noch findet, hält er ohnehin für eine Fiktion. Zu allen Zeiten und in allen Phasen sei Rock in „Strukturen“ eingebunden gewesen. Und vielleicht hat er ja sogar recht damit. Warum nicht Popmusik studieren? Warum nicht zwei, drei, viele Rockbeauftragte schaffen? Gar Pop-Beamte? Warum nicht Doktorarbeiten schreiben mit Titeln wie „Rock – Tendenzen des Tonträgerwesens im letzten Drittel des ausgehenden Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung ethnographischer Ansätze, demoskopischer Erhebungen und multikultureller Vernetzung“. Pourqui pas? Wir fühlen uns von alldem ein wenig an die kombinierten Lehrveranstaltungen der siebziger Jahre erinnert, wollen uns aber dem Wirken der Wissenschaft nicht grundsätzlich verschließen – wenn es denn der Wahrheitsfindung dient. Thomas Groß

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