Stative gegen Schrotflinten

Über den Pyrenäen-Paß Orgambideska entfliehen Millionen Vögel dem Winter – für Jäger ein Eldorado, für Naturschützer harte Arbeit.  ■ Von Martin Baumgärtner

Pfeifend fegt ein morgendlicher Herbststurm über den kahlen Pyrenäenpaß nahe der baskischen Stadt St. Jean-Pied-de-Port und stemmt sich gegen eine hölzerne Jurte. Drinnen flackert ein Gaskocher, Kaffee dampft, knuspriges Weißbrot liegt auf dem grobgezimmerten Tisch. Xavier Leslaideur, noch leicht fröstelnd, schlürft genüßlich seinen heißen Milchkaffee. „Heute fällt es mir schwer aufzustehen“, seufzt er, „aber die Zugvögel rufen zur Arbeit.“

Xavier ist Vogelkundler auf dem 1.300 Meter hohen Col Orgambideska, dem „Pferdewagen- Paß“. Der Bergrücken wird jedes Jahr zwischen Spätsommer und Anfang Dezember von rund 100.000 Greifen, bis zu 900.000 Ringeltauben, Millionen von Singvögeln sowie von rund 20.000 Kranichen in geringer Höhe überflogen. Denn um die Pyrenäen zu überqueren, müssen die Zugvögel den trichterartigen Tälern folgen und gelangen automatisch zu den Gebirgspässen. „Drei Wespenbussarde im Anflug“, ruft er und reicht mir sein Fernglas. Erst nach verzweifeltem Suchen entdecke ich drei winzige schwarze Punkte am Himmel. „Reine Übungssache“, lacht Xavier über mein Erstaunen.

Der Paß am Ende des Tals von Larrau ist für Zugvögel, aber auch für Libellen, Schmetterlinge, Schwebfliegen und andere Wanderinsekten eine topographische Falle. Zwischen September und November gastieren in der Region rund 2.000 Jäger, die, in 500 Schießständen verborgen, den Schwärmen der Wildtauben entgegenfiebern. „Manche von ihnen erschießen alles, was niedrig fliegt, zum Beispiel auch den skandinavischen Merlinfalken“, beklagt Xavier den Jagdzirkus. Mehr als eine Tonne Blei prasselt pro Jahr auf die Bergwiesen, schätzen die Naturschützer anhand von Schußzählungen. Außerdem, so haben sie errechnet, kostet jede getötete Taube den Jäger durchschnittlich 250 Franc.

Zehntausende von Ringeltauben sterben durch eine weitere, lautlose Jagdmethode, die in der Nähe des Dorfs Lanne ausgeübt wird. Dort sind vier riesige Fangnetze an einem Gebirgseinschnitt zwischen hohen Buchenstämmen gespannt. Nähert sich ein Taubenschwarm, heißt es für die Männer am Netz „aufgepaßt“ – besonders für den pensionierten Schuhmacher Bertron, der in einem 20 Meter hohen Ausguck verharrt. Sobald der Schwarm in Reichweite ist, schleudert er weißgetünchte Holzkeulen als Greifvogelattrappen über die überraschten Vögel, die, anstatt in sicherer Höhe den Bergrücken zu überqueren, von Panik erfaßt zwischen den Bäumen Schutz suchen und in die Falle fliegen. Schnell werden die Vögel von geübten Händen gegriffen, mit einem Biß in den Kopf getötet und für umgerechnet 18 Mark das Stück als Delikatesse verkauft.

Nachdem das französische Fernsehen über die Ringeltaubenjäger berichtet hatte, liefen Frankreichs Tierschützer Sturm. Dennoch gibt die Regionalverwaltung nicht nach. Für die 43 weitverstreuten Berggemeinden ist die Jagd eine lohnende Einnahmequelle in Millionenhöhe. Alle drei Jahre werden die 17 Pässe des Larrau- Tals an 193 wohlhabende Federwildschützen verpachtet.

Die Konfrontation spitzte sich zu, als vor zwölf Jahren Naturschützer einen dieser Pässe, den Col Orgambideska, für 20.000 Franc Pacht pro Jahr ersteigerten und dort die Jagd verboten. „Unsere Jurte wurde niedergebrannt, zerstochene Reifen, Körperverletzung und Morddrohungen waren an der Tagesordnung“, schildert der Biologe François Sagot, der die Aktion „Orgambideska Col Libre“ mitbegründete. Seitdem haben Spezialisten des „Interventionsfonds für Greifvögel“ und der „Französischen Vogelschutzliga“ hier den Vogelzug studiert. Ihre Ergebnisse übertrafen alle Erwartungen: Der Orgambideska-Paß hat als Zugvogelpassage eine ähnlich große internationale Bedeutung wie die Meerengen von Gibraltar oder Falsterbo in Schweden.

Trotz finanzieller Unterstützung durch sieben französische Naturschutzorganisationen drohte dem bald 900 Mitglieder starken Verein „Orgambideska Col Libre“ ein unrühmliches Ende. Die Regionalverwaltung weigerte sich – auf Drängen der Jagdlobby –, den Pachtvertrag zu verlängern. François Sagot und seine Freunde wandten sich in ihrer Verzweiflung an die Öffentlichkeit, bis der Skandal selbst im fernen Paris zur Kenntnis genommen wurde. Schließlich garantierte das nationale Umweltministerium die Zahlungen der jährlichen Pachtsumme.

Öffentlichkeitsarbeit ist für die Naturschützer am Col Orgambideska selbstverständlich. Über 20.000 Schüler und Touristen haben bislang den Bergpaß besucht und wurden kostenlos in das ABC der Vogelkunde eingeführt. „Vogelbeobachten macht mir Spaß“, versichert Student Stephane Dulau, der seine freien Wochenenden hier verbringt und anhand der Flugsilhouetten in der Lage ist, die Greifvögel schon auf eine Distanz von mehreren Kilometern zu bestimmen.

Wenn die Blätter der Bergwälder fallen, erscheinen die letzten Nachzügler: ein Fischadler und fünf Rotmilane. Xavier, in eine dicke Daunenjacke gehüllt, notiert sie in sein Tagebuch. Den Gänsegeiern, die seit zehn Minuten über ihm kreisen, widmet er keine Aufmerksamkeit, denn sie sind Strandvögel. Eine Kolonie dieser eindrucksvollen Vögel brütet nicht weit davon auf der spanischen Pyrenäenseite in einer Schlucht des Rio Salazar. Eine Besucherplattform im Geierschutzgebiet „Foz des Arbayun“ ermöglicht die ungestörte Beobachtung der Tiere.

Nach stundenlanger Langeweile kommt nochmals Bewegung in den vor Kälte zitternden Beobachter. „Dort – Kraniche!“ ruft Xavier aufgeregt. Tatsächlich: Mit wehmütigen, trompetenartigen Rufen zieht ein keilförmig angeordneter Kranichtrupp über die verschneiten Gipfel. Ihr Zug verschwindet bald in den Abendwolken. Zeit, die Stative, Ferngläser und Bestimmungsbücher einzupacken. Nach dem Abendessen trägt Xavier im Kerzenschein seine Beobachtungen ein. Dann kriecht er erschöpft in den Schlafsack. Nachts fällt am Paß der erste Schnee.

Informationen:

–Orgambideska Col Libre,

F-64190 Jasses.

–Französisches Fremdenverkehrsbüro, Postfach 100128,

6000 Frankfurt/M., Tel.: 069-7560830.