Tabubruch etc.
: Hurra, wir kleben noch

■ Die Wertewelt der Fünfziger – mit Indianergeheul vom „Spiegel“ neu empfohlen

In schlimmen Zeiten, eingeklemmt zwischen „Asylantenfluten“ und „rechtsradikalen Flächenbränden“, verlangt es den Bürger nach Orientierung. Moralische Leitung ist in der meinungsführenden „Qualitätspresse“ wieder gefragt – oder wird zumindest angeboten. Die letzte Schlacht zwischen Gut und Böse steht kurz bevor. Da will die Zeit nicht abseits stehen: „Der Firnis der Zivilisation ist hauchdünn“, und „täglich lesen, hören, sehen wir in den Medien, wie es dem Satan gelingt, seinen Kopf zu heben“, „die Losungen des Bösen beflecken wieder die gepflegten Hauswände“, und immer häufiger erkennen wir, „daß das Böse eine allgegenwärtige Möglichkeit ist“.

„Die Tendenz zur Barbarei ist deutlich erkennbar“: In „diesen apokalyptischen Zeiten“ pflichtet der Spiegel der Hamburger Wochenzeitung in seiner neuesten Ausgabe nach Kräften bei. Ging es in der Zeit-Theologie des Bösen jedoch noch um Sarajevo und deutsche Neonazis, so handelt der Spiegel-Aufmacher publikumswirksam vom Verfall der Mediensitten. Ein halbes Jahr nachdem Hör-Zu, Super-Illu und andere Organe des deutschen Medienwillens ihr „Liebes Fernsehen“ aufgefordert hatten, auf „überall Porno“ (Hör-Zu) zu verzichten, ist auch der Spiegel dem Waschzwang erlegen. „Volk im Schweinestall“ war die letzte Titelstory überschrieben. Wortreich und kenntnisarm wird das „mediale Tollhaus“ beklagt.

Schlecht gelaunt könnte man den namentlich nicht gekennzeichneten Aufmacher der Spiegel-Maschinerie auf sich beruhen lassen, würde er nicht zwischen frechem Zynismus und gespielter Empörung die Installierung einer Medienmoral fordern, die den Vorstellungen autoritätsversessener Moralapostel entspricht. Denn wer ohne mit der Wimper zu zucken von der „Zerrüttung der herrschenden Sexualmoral“ schreibt, die in den fünfzigerJahren mit dem Hildegard-Knef- Film „Die Sünderin“ begonnen habe, ersehnt die Reetablierung der 50er-Jahre-„Moral“. Wer angewidert die Auftritte von „Vertretern sexueller Kleingruppen“, die in den Medien über ihr „bizarres Liebesleben“ reden, beklagt, fordert im Namen des gesunden Volksempfindens deren Ausschluß. Wer „mörderische Neonazis“, brutale Schüler und Tierquäler in einem schäumenden Atemzug mit den bösen Medien nennt, verwechselt Bild und Wirklichkeit.

Um die Bedrohung der „verunsicherten, verstörten“ deutschen „Menschheit“ total erscheinen zu lassen, ist übrigens jedes Mittel recht. So wird ein Film – Sam Peckinpahs „Wild Bunch“ – (zweimal lesen bitte!) als „einer der folgenreichsten und fatalsten Tabubrüche in der Menschheitsgeschichte“ beschrieben. Doch nicht nur die Bilder verrohen, konstatiert der Spiegel; mit Indianergeheul kommt auch eine „sprachliche Verwilderung“ daher. „Dreist obszönes Vokabular, das in halbwegs zivilisierten Kreisen noch vor wenigen Jahren unaussprechlich war“, schlimme Wörter wie „ficken“ und „blasen“ branden ins Wohnzimmer, in dem zitternde Eltern auf „salonfähige Unterhaltung“ warten. „Kommerzbrüder“ und „Schmuddelkinder“, „Afterkünste“ und „Gossenprosa“ bedrohen die keimfreie Wirklichkeit von Spiegel-Mama und Spiegel- Papa, die in den Medien der angeblich „enttabuisierten Gesellschaft“ nach moralischer Führung und Leitung verlangen.

Es erübrigt sich der Einwand, daß die „neue Lust am Grauen“ eine alte ist, daß Trash und grausame Splatterelemente sich nicht erst bei Wilhelm Busch, sondern schon bei Homer finden, und daß die Diskussionen über die „Ästhetik des Schreckens“ in der Romantik intelligenter geführt wurden. Es geht letztendlich nicht darum, ob man die Entwicklung „des Fernsehens“ begrüßt, verdammt oder ob sie einen gleichgültig läßt, ob man den Rassismus und Sexismus der Volksmusik nun für „schlimmer“ oder weniger „schlimm“ als die Männermagazine hält. Wer jedoch die eigentliche „gute“ Mehrheit (73Prozent der Mediennutzer seien gegen Gewalt) gegen die „verkommene“ Mehrheit („geistig verkümmerte (Sat.1-)Klientel“) ins Feld führt und einen Kausalzusammenhang suggeriert zwischen der Sexualisierung und Brutalisierung der Bildschirme und zunehmender neonazistischer Gewalt, schließt sich letztendlich den medienpolitischen Vorstellungen der Rechtsradikalen an. Detlef Kuhlbrodt