Von der Vergangenheit eingeholt

■ BewohnerInnen der britischen Kanalinseln kollaborierten weit stärker mit der Nazi-Besatzung, als bislang zugegeben

Dublin (taz) – 47 Jahre sind eine lange Zeit – aber immer noch zu kurz für viele BewohnerInnen der britischen Kanalinseln. Sie hätten die Akten aus der Zeit der deutschen Besetzung ihrer Inseln während des Zweiten Weltkrieges gerne länger unter Verschluß gehalten. Das war ursprünglich auch geplant: Die Dokumente sollten erst im Jahr 2047 freigegeben werden. Doch eine engagierte Kampagne des Labour-Abgeordneten David Winnick zwang die Regierung, die Archive frühzeitig zu öffnen.

Winnick war es übrigens auch, der im vergangenen Jahr vergeblich die Auslieferung des deutschen Kriegsverbrechers Kurt Klebeck forderte. Der heute 86jährige Klebeck, der in Hamburg lebt, war von 1943 bis 1944 als SS-Hauptmann zweiter Kommandant eines Konzentrationslagers auf der Kanalinsel Alderney.

Zusammenarbeit auf Vermittlung des Arbeitsamtes

Die Regierungsakten, aus denen allerdings „besonders sensible Materialien“ vor der Veröffentlichung entfernt wurden, sowie die Akten der Inselverwaltung, die am vergangenen Wochenende freigegeben wurden, weisen auf eine weit größere Kollaboration der Inselbevölkerung mit den Nazis hin, als bisher zugegeben wurde. So hat die Hälfte aller Arbeitskräfte auf Guernsey freiwillig für die deutsche Besatzungsarmee gearbeitet – viele auf Vermittlung des Arbeitsamts von Guernsey. Der damalige Verwalter Guernseys, Victor Carey, bezeichnete die englischen Truppen in seinen amtlichen Schreiben stets als „feindliche Kräfte“ und setzte 25 Pfund Belohnung für Hinweise auf Personen aus, die Anti-Nazi-Parolen auf Häuserwände malten.

Die Inselverwaltung arbeitete mit den Nazis auch bei der Zusammenstellung der Deportationslisten Hand in Hand. Über 2.500 Menschen aus Guernsey und Jersey wurden auf Befehl Hitlers in deutsche Konzentrationslager geschickt. Die freiwillige Polizei der Kanalinseln half dabei, diese Menschen aufzuspüren und festzunehmen. Der unabhängige Fernsehsender Channel Four wies am vergangenen Wochenende in einer Dokumentation nach, daß Carey persönlich vier Jüdinnen denunziert hatte, darunter eine Österreicherin, die nach dem „Anschluß“ auf die Kanalinseln geflohen war. Deren Bruder machte letzte Woche zufällig Urlaub in England und sah den kurzen Film. Er hatte seit der Flucht seiner Schwester aus Österreich ihre Spur verloren und wußte nichts von ihrem Schicksal. Carey wurde nach dem Krieg geadelt. Sein Enkel ist heute Verwalter auf Guernsey.

Die britische Regierung hatte bisher immer behauptet, daß es keine Zeugen für die Ermordung von tausend Russen, Deutschen, Polen und französischen Juden in den vier Arbeitslagern auf Alderney gibt, da die 2.000 EinwohnerInnen der kleinen Insel im Juni 1940 evakuiert wurden. Deshalb konnten die deutschen Kriegsverbrecher nach dem Krieg auch nicht angeklagt werden, hieß es. Aus den jetzt veröffentlichten Papieren geht jedoch hervor, daß mindestens 50 Leute aus Alderney, Jersey und Guernsey in der Militärverwaltung der Nazis auf Alderney arbeiteten. Nebenbei plünderten sie die verlassenen Häuser ihrer Nachbarn – eine Tatsache, die nach dem Krieg lange Zeit für erhebliche Spannungen unter der Bevölkerung sorgte.

Für die einheimischen Frauen, die während der Besatzungszeit als Prostituierte in Nazi-Bordellen arbeiteten – darunter laut Akten „eine überraschend große Zahl verheirateter Frauen, die bis dahin als ehrbar galten“ –, begann nach dem Krieg ein Spießrutenlauf.

In den jetzt veröffentlichten Papieren ist vermerkt, daß „259 illegitime Babys geboren wurden, von denen mindestens 140 von deutschen Soldaten gezeugt worden waren“. Schon während der Besatzung hatte die Untergrund-Organisation „Guernsey Underground Barbers“ Bestrafungsaktionen gegen die Frauen durchgeführt.

Bevölkerung fühlte sich von London im Stich gelassen

Die Kanal-InsulanerInnen machen die britische Regierung für die Kollaboration mitverantwortlich, weil sie nach der Befreiung Frankreichs nichts unternommen habe, um auch die Kanalinseln zu befreien.

Die Bevölkerung fühlte sich von London im Stich gelassen. Eine wichtige Rolle spielten auch die gute Bezahlung und die Sonderrationen, die die Nazis den Kollaborateuren zukommen ließen, sowie der Zugang zu den deutschen Kantinen.

Ron Hurford, der als 19jähriger freiwillig einen Job in der deutschen Armee-Bäckerei annahm, sagte am Wochenende: „Ich habe nicht für die Deutschen gearbeitet, sondern für meine Familie und meine Freunde. Ich habe jede Woche sechs bis acht Brotlaibe gestohlen und sie meinen Eltern, Brüdern und der Familie meiner Freundin gegeben.“

Hurford sagt, daß er die Deutschen noch immer haßt und ihn die Vorwürfe der Kollaboration wütend machen. „Wir hatten keine Wahl“, sagt er.

Die britische Regierung kehrte die Kollaboration nach dem Krieg unter den Teppich. Es gebe keine gesetzliche Grundlage für eine Anklage, hieß es Ende 1945. Der britische Generalstaatsanwalt schrieb im November desselben Jahres, daß selbst ein Tribunal gegen die schlimmsten Kollaborateure „nicht wünschenswert“ sei.

Die Regierung willigte sogar ein, deutsches Geld in Sterling einzutauschen. So konnten diejenigen, die mit Hilfe der Nazis durch Schwarzmarktgeschäfte während der Besatzung Geld gehortet hatten, ihr Vermögen auch nach dem Krieg behalten. Ralf Sotscheck