EG: Sozialstaat nur national

Die Gewerkschaften haben spät begonnen, sich EG-weit zusammenzuschließen Teil 11 der taz-Serie zum EG-Binnenmarkt  ■ Von Donata Riedel

Berlin (taz) – Der europäische Arbeiter spricht kein Englisch und kann die Simultan-Übersetzerin nicht bezahlen. Das nennen auch heute noch Gewerkschafter als Haupthindernis für ein einheitliches gewerkschaftliches Vorgehen auf EG-Ebene. Während die Unternehmer in den achtziger Jahren den global player zum Ideal erhoben, auf simultan-übersetzten Kongressen über den Binnenmarkt parlierten und immer mehr Firmen fusionierten, begannen die Gewerkschaften erst in den Neunzigern mit einer intensiven Lobbyarbeit in Brüssel.

Bis Ende der achtziger Jahre hatte die „sozialdemokratische Mitte“ des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) die christlichen und kommunistischen Gewerkschaften soweit „aufgesaugt“, daß der EGB heute das Verhandlungsmonopol beanspruchen kann. Das bemängelt Otto Jacobi in einer Analyse für das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Instiut des DGB. Die Arbeitgeberverbände UNICE (der Privatwirtschaft) und CEEP (der öffentlichen Wirtschaft) waren da schon lange schlagkräfte Lobbies.

Die 1.000 größten EG-Unternehmen brachten allein von Juni 1989 bis Mai 1990 622 Fusionen zustande, davon mehr als die Hälfte grenzüberschreitend. Zwei Jahre zuvor waren es im gleichen Zeitraum nur 383 Fusionen gewesen. Die Grenzen zwischen den EG- Ländern spielen daher schon heute keine Rolle mehr bei Entscheidungen darüber, wo investiert wird und welche Arbeitszeitmodelle gelten sollen. Die nationalen Betriebsräte aber werden dabei nur über die jeweils nationalen Aspekte der Unternehmensentscheidung informiert, wie IG-Metall-Vorsitzender Franz Steinkühler bemängelt. Er fordert daher eine Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes. Darin solle deutschen Konzernbetriebsräten erlaubt werden, einen Wirtschaftsausschuß gemeinsam mit ausländischen Arbeitnehmervertretern zu bilden.

Daß Steinkühler heute den deutschen Bundestag bemüht und nicht in Brüssel antichambriert, ist symptomatisch für die Lücken im EG-Sozialrecht. Seit Dezember 1990 staubt in den Schubladen der EG-Kommission ein Richtlinienentwurf zu Euro-Betriebsräten vor sich hin, der von britischer Seite blockiert wird.

Nach der Richtlinie müßten in den 1.000 größten multinational tätigen Konzernen Euro-Betriebsräte gegründet werden, die weitgehende Rechte auf Information und Anhörung hätten. Euro-Betriebsräte existieren somit nur da, wo die Unternehmensleitung freiwillig zu deren Einrichtung bereit ist. Im Februar 1992 wurde für VW eine entsprechende Vereinbarung unterzeichnet. In der Geschäftsordnung verpflichten sich die Betriebsräte, sich nicht gegeneinander ausspielen zu lassen und einen „solidarischen Interessenausgleich“ zwischen den Standorten zu suchen. Bei der Allianz finden einmal im Jahr europaweite Treffen der Betriebsräte statt, auf denen auch der Vorstand informiert. Diese Treffen durch die Gründung eines Euro-Betriebsrats zu institutionalieren, weigert sich jedoch nach Aussage des deutschen Allianz-Betriebsrats die Geschäftsleitung. Der Betriebsrat sei zwar sehr dafür. Er schätzt aber die Bereitschaft der Belegschaftsbasis, innerbetrieblich Druck zu machen, nicht allzu hoch ein.

Im DGB wird durchaus eingeräumt, daß die Gewerkschaften mit Europa überfordert sind. In allen westeuropäischen Ländern finde ein gesellschaftlicher Strukturwandel hin zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft statt, der die Kapazitäten der Gewerkschaften absorbiere, meint der Sozialwissenschaftler Otto Jacobi. Schon auf nationaler Ebene sei der Interessenausgleich zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern enorm schwierig. Die Gewerkschaften müßten daher ihre Interessenpolitik neu bestimmen und transnational koordinieren. So wie die Arbeiterbewegungen national den Sozialstaat erstreiten mußten, könnten sie heute nicht erwarten, daß ihnen die Europäische Sozialunion von den Regierungen vor die Füße gelegt werde.

Ein weiteres Hemmnis liegt in den unterschiedlichen sozio-ökonomischen Entwicklungsstufen der EG-Mitgliedsländer, die zu unterschiedlichen Interessenlagen zwischen den im EGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften führten. Außerdem gibt es neben den Einheitsgewerkschaften in Großbritannien, Deutschland, Irland und Dänemark politisch-weltanschauliche und konfessionelle Richtungsgewerkschaften in den übrigen EG-Staaten.

Der Organisationsgrad der Beschäftigten reicht von 80 Prozent in Dänemark über 42 Prozent in der Bundesrepublik bis zu zehn Prozent in Spanien und Frankreich. Selbst wenn alle fließend englisch sprächen, bliebe somit bei internationalen Gewerkschaftertreffen die Verständigung oftmals sehr schwierig.