Einjähriges Kind für 11. 000 Mark

■ Prozeß wegen internationalen Kinderhandels: Zwei Kinder aus Asylbewerberheimen in Berlin und Braunschweig entführt

Berlin. In dem Wohnwagen eines Roma-Ehepaars auf einem Parkplatz in der Jafféstraße wurde am Morgen des 10. Oktober 1991 heftig gefeilscht. 15.000 Mark lautete die Forderung der einen, 9.000 Mark die Offerte der anderen. Bei 11.000 Mark plus 1.000 Mark Spesen war das Geschäft perfekt. Doch das Roma-Ehepaar, das soeben nicht etwa ein Auto, sondern einen kleinen einjährigen Jungen erstanden hatte, konnte sich an dem preiswerten Deal nicht lange freuen. Nachmittags durchsuchte die Kripo die Wohnwagensiedlung und fand so den einjährigen Mate S., der nachts zuvor aus einem Asylbewerberheim in Kladow entführt worden war. Wenige Schritte weiter fanden die Beamten auch ein kleines Mädchen. Es entpuppte sich als die dreijährige Zuhra K., die drei Wochen vorher aus einem Braunschweiger Asylbewerberheim verschwunden war.

Gestern begann vor der 6. Strafkammer des Landgerichts der Prozeß wegen international organisierten Kinderhandels. Einen vergleichbaren Fall – Kindesentführung zum Zwecke des Verkaufs – hat es in der Bundesrepublik bislang noch nicht gegeben. Handel mit Kindern gibt es hingegen schon lange. Vor Gericht steht das aus den Niederlanden kommende Roma-Ehepaar, der 43jährige Ludovicus B. und seine 36jährige Frau Maria d. B., in deren Wohnwagen Mate S. gefunden worden war. Ihnen wird gemeinschaftliche Kindesentziehung aus Gewinnsucht sowie Freiheitsberaubung zur Last gelegt.

Mitangeklagte sind der 28jährige Rumäne Ioachim C. und der 24jährige Steven T. Die beiden Sintis sollen Mate aus dem Kladower Asylbewerberheim entführt haben. Bis auf Maria d. B. sitzen alle Angeklagten in U-Haft. Nach Auffassung der Ermittlungsbehörde handelt es sich bei den vier Tatverdächtigen jedoch nur um den Teil einer Bande, die vermutlich von Paris aus agiert. Als Hintermann und Drahtzieher gilt der international gesuchte 44jährige Franzose Joseph C., der in Berlin zusammen mit dem nunmehr angeklagten Ludovicus B. gesehen worden sein soll.

Insgesamt 130 Zeugen sollen in den anberaumten drei Verhandlungstagen gehört werden. Der schleppende Verlauf des gestrigen ersten Tages, bei dem nicht einmal die Vernehmung der Angeklagten abgeschlossen wurde, läßt eine Verlängerung erwarten. Aus den zum Teil in epischer Breite abgegebenen wirren Aussagen kristallisierten sich gestern zwei Versionen heraus. Der 24jährige Serbe Steven T. und der 28jährige Rumäne Ioachim C. gaben zu, Mate S. kurz nach Mitternacht am 10. Oktober in einer Reisetasche mit zugezogenem Reißverschluß aus dem Kladower Asylbewerberheim entführt zu haben.

Bei der Frage, ob dies im Auftrag und mit Wissen von Ludovicus B. geschah, widersprachen sie sich jedoch deutlich. Steven T. sagte aus, Ludovicus B. „hat gewußt, daß das Kind gestohlen war“. Ioachim C. hingegen suchte den Roma von dem Verdacht der Auftrageber- und Mitwisserschaft reinzuwaschen. Von seiner anderslautenden Darstellung bei der Polizei wollte er gestern nichts mehr wissen. Damals hatte er laut Protokoll gesagt: Ludovicus B. habe den Auftrag erteilt, notfalls ein Kind zu entführen, wenn sich keine verkaufswilligen Eltern fänden. Außerdem sei der Roma in den Berliner Asylbewerberheimen als Mensch bekannt, der „öfters Kinder ankauft und zu höherem Preis weiterverkauft“.

Ludovicus B. bestritt, von der Entführung Mates gewußt zu haben. Er habe geglaubt, Steven T. sei der Vater. Dieser, so gab er gestern an, hat sich tatsächlich als Vater ausgegeben, warum, blieb jedoch unklar. Er habe den Jungen gekauft, so Ludovicus B. weiter, um diesen zu adoptieren, denn seine Frau Maria könne keine Kinder bekommen. Sein Verteidiger erklärte die Beweggründe von Ludovicus B. am Rande des Prozesses so: Jener habe zum Mittel des Kaufes gegriffen, weil er aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit keine Chance für eine Adoption sah. Der Prozeß wird morgen fortgesetzt. Plutonia Plarre