Dermaßen eindeutig vorgreifen

Leander Haußmann inszeniert „Romeo und Julia“ in München  ■ Von Brigitte Werneburg

Zu Bewunderung, Mitleid und Bewegtheit will eine merkwürdige Komödie, die in eine ebenso merkwürdige Tragödie umkippt, sein Publikum verführen. Das gar nicht klassische Drama um „Romeo und Julia“ kennt keineswegs eine Katharsis ob des Todes der Protagonisten infolge schuldhaft-unschuldiger Verstrickung. Ja, selbst die Liebesgeschichte, behauptet ein früher Erzähler, dem Shakespeare nacherzählt, ist gar keine der Liebe, sondern nur der Lüsternheit. Sagt jedenfalls Arthur Brooke in seiner „Adress to the Reader“, 1592 in „The Tragicall Historye of Romeus and Juliet“.

Auf diese antiklassische Erzählung läßt sich Leander Haußmanns Neuinszenierung am Residenztheater in München ein und gewinnt doch keineswegs des Premierenpublikums admiration and commiseration, von der die elisabethianische Poetiklehre spricht. Der Beifall ist zu schlapp, und als der Regisseur, der sich zu DDR- Zeiten im Schlepptau von Frank Castorf als „Regie-Wilder“ empfahl, auf die Bühne tritt, kommen genügend Buhrufe auf, um ihn mit schockierter Miene zu zeigen.

Nein, die zwei sich gleich zu Beginn in schwerem Bühnennebel gegenseitig um Ehre und zwecks Vertreibens arbeitsloser Langeweile streitenden Gangs von Jugendlichen sind nicht „Boyz 'n the hood“. The „Monstergus“ gegen die Capulets – sie hauen sich die englischen Verse und die stählernen Klingen mit großem Spaß um die Ohren – mit der resignativen Stimmung des Compton-Rap hat das nichts zu tun. Zwischen den hoch aufragenden Geschlechtertürmen Veronas (Bühne: Bernhard Kleber) stächen die Alten am liebsten gleich noch mit. Allein, die Lust der mutwillig tobenden, die Szene enorm ausdehnenden jungen Schauspieler, sie springt nicht über, sie nervt. Sie nervt wie das Gesumm der Stubenfliege, mit dem das Schauspiel in den Zuschauerraum hinein eröffnet wird. Vom Publikum als hübscher technischer Trick begrüßt, noch ahnungslos, welchen symbolischen Fingerzeig der transvestitische Master of Ceremony und Musikant Naso (Ralf Dittrich) ihm damit gibt.

Romeo kommt verspätet auf den Kampfschauplatz, bekanntermaßen aus einer verlorenen Schlacht. Der Shakespearschen spöttischen Klage ob der Sprödigkeit seiner Angebeteten hängt Guntram Brattia ein zur Seite gesprochenes: „Sie läßt sich nicht ficken“ an. Da geht es nicht um Julia. Und doch wollen just zu diesem Zeitpunkt Mutter und Amme ihr die Vorstellung von Mann und Hochzeit schmackhaft machen. Margit Carstensen als geschwätzig närrische Kupplerin kann Erdbeben, vier Zähne, ihren seligen Mann und das Vernünftigwerden einer Dreijährigen spielend in einen Monolog unterbringen.

Ist es ein guter (Prinzessinnen-)Witz, daß auf dem Maskenball Julia in Gestalt des Frosches mit umfangreicher Taille den Romeo verzaubert? Besitzt Anne- Marie Bubke, noch ganz als Kind geführt, solch kecke Ironie? Gut, später wenn Mercutio und Tybalt Fehdeopfer geworden sind und Haußmann das Hochzeitsbett auf dem abgeräumten Schlachtfeld Veronas aufbaut, das jetzt ein Leichenacker ist, da traut man Julia alles zu. Die bezaubernd süße Stimme Anne-Marie Bubkes ist rauh genug, dem jungen Mädchen Liebeslust und Liebesschmerzen anzudichten. Auch Lüsternheit spräche diese Stimme, würde nicht die Aktion dermaßen eindeutig vorgreifen, daß jeglichen Worten das Nachsehen bleibt. Zu sehen ist, wie Julia die Beine spreizt und dem Publikum Einblick gönnt dahin, wo gleich darauf Romeos Kopf auftaucht. Nur schaut der in die falsche Richtung – sollte es denn um sexuelle Befriedigung gehen. Und wenn der MC zum Körperspiel die Laute schlägt, feiert auch noch das Sinnbild aus der Mottenkiste, wie der Mann den Körper der Frau zum Erklingen bringt, sein Wiedererstehen (Musik, Songs, Zitate und Eigenes: Michael Gottfried). Warum eigentlich nicht gleich richtig? Man kann – ganz in den Worten Romeos – auf der Bühne ficken, warum nicht?

Guntram Brattias nackter Romeo macht eine hübsche Figur auf der Bühne, wie überhaupt der Körper des (jungen, männlichen) Schauspielers, sei er Romeo, Mercutio (Wolfgang Bauer), Tybalt (Hans-Werner Meyer), sei er der pantomimische Zeremonienmeister, Haußmanns inszenatorisches Zentrum ist. So bringt viel bewunderswerte Akrobatik und viel schadenfreudiges Mitgefühl erweckender Slapstick zwar reichlich Bewegung ins Spiel, doch handelt es sich offensichtlich um eine motorische Übersetzung von Emotion, dessen also, was bewegt. Oder anders gesagt: Wenn das Spiel dann wenigstens beweglich geworden wäre in einer ästhetischen Form, die die des Staatstheaters und des Fechttrainings todestraumtänzerisch überschritten hätte.

William Shakespeare: „Romeo und Julia“. Regie: Leander Haußmann. Capulet: Wolfgang Hinze, Montague: Alois Strempel, Graf Paris: Hans Piesbergen, Fechtszenen: Reinhard Riemerschid, Akrobatik: Roman Linke, Horst Beeck. Weitere Termine: 31.1., 6.2., 22.2. und 26.2., Residenztheater München