: Nur die Straßenbahn funktioniert
Großbetriebe der lettischen Industriestadt Daugavpils vor dem Bankrott/ Mit der UdSSR verschwanden die Geschäftsbeziehungen ■ Aus Daugavpils Matthias Lüfkens
Die alte Straßenbahn ist wohl das einzige, was in Daugavpils sieben Tage in der Woche mehr oder weniger einwandfrei funktioniert. Die meisten Großbetriebe der 130.000 Einwohner zählenden Industriestadt im Südosten Lettlands gehen langsam bankrott.
Seit September steht die Kettenfirma still, die Fahrrad- und Traktorketten sowie Pedale und Dreiräder produzierte. Die 4.000 Angestellten sind auf unbezahlten Urlaub. Heizung und Strom wurden abgestellt, und selbst der Aufzug funktioniert nicht mehr. Das hochverschuldete Unternehmen kann weder die Heizungsrechnung zahlen noch Rohstoffe erwerben.
Die meisten der Großbetriebe in Daugavpils beziehen ihre Rohstoffe aus den GUS-Staaten und belieferten hauptsächlich den ehemaligen sowjetischen Markt. Heute sind die Industriekolosse für die kleine Baltenrepublik zur großen Last geworden. Im Lokomotiv-Ausbesserungswerk wurde bisher die sowjetische Dampflokomotive des Typs „2TE 10M“ repariert. „Selbst wenn eine dieser Loks in Wladiwostok zusammenbrach, wurde sie zur Reparatur hierher transportiert“, erinnert sich der Direktor, der Rußlanddeutsche Emil Busch.
Heute arbeiten die 3.500 Angestellten nur noch drei Tage pro Woche, und anstatt 74 werden nur noch 23 Loks repariert, ein Rückgang, den der Direktor mit dem generellen Rückgang des Zuggütertransportes erklärt. Was Busch am meisten ärgert, ist die Einführung der lettischen Übergangswährung, des lettischen Rubels, der sich in den letzten Monaten gegenüber seinem russischen Pendant als stabiler erwies. Der Außenhandel mit den ärmeren GUS-Staaten wurde dadurch lahmgelegt. „Die Einführung des lettischen Rubels ist eine Katastrophe für unser Unternehmen“, so der Direktor. Das Unternehmen, am Schnittpunkt des baltischen Eisenbahnnetzes, will sich nun mehr auf den lettischen und baltischen Markt konzentrieren, doch „selbst wenn wir alle Loks des Baltikums ausbessern, ist unser Unternehmen nicht ausgelastet.“
In Daugavpils fürchtet man in den nächsten Monaten eine massive Arbeitslosenwelle. Das Möbelkombinat, das bisher sowjetische Standardbetten, Schränke und Klappstühle produzierte, hat bereits die Hälfte der ehemals 1.050 Angestellten entlassen. Es wird noch vier Tage in der Woche gearbeitet, um einen Klappstuhlauftrag für Belgien zu erfüllen. Danach rechnet der Leiter mit dem Aus. Das Unternehmen soll privatisiert werden, doch hat sich bis jetzt kein Käufer gemeldet. Das Lagerhaus ist voll mit unverkauften Betten, weil sich niemand in Lettland oder der Ex-Sowjetunion Betten für umgerechnet 300 Mark leisten kann.
Seit Dezember bilden sich vor dem Arbeitsamt in der Innenstadt lange Schlangen. Die Arbeitslosenrate liegt zur Zeit zwar nur bei drei Prozent, aber die „reflektiert nicht die wirkliche Situation“, meint Direktor Viktor Kapiliusch. Acht Prozent der Werktätigen hätten bereits einen Antrag gestellt, und Kurzarbeit als versteckte Arbeitslosigkeit werde nicht mitgezählt. „Wir stehen vor einer sozialen Explosion, wenn die Regierung nicht umgehend etwas tut.“
Die meisten Angestellten haben vor ein paar Monaten zum letzten Mal eine Lohntüte gesehen. „Meine Frau und mein Sohn haben seit September kein Gehalt mehr bekommen. Ich habe im Oktober eintausend Rubel erhalten“, berichtet Pavel Issaenko, der Nachtwächter des Ausbesserungswerkes. „Selbst wenn ich mein Gehalt von 5.000 Rubel bekäme, kann ich nicht die 6.000 Rubel Miete für die Wohnung zahlen.“
Im Rathaus bestätigt Bürgermeister Valdis Lauskis, daß nur etwa ein Viertel aller Haushalte Miete, Heizung und Strom zahle. „Wir können niemanden vor die Tür setzen, geschweige denn die Heizung individuell abdrehen, solange wir zentral heizen.“ Die Stadt kann die Heizkosten noch tragen dank des Chemiekomplexes, der trotz eines 30prozentigen Produktionsrückgangs weiterarbeitet. „Rußland braucht weiterhin unsere Kunstfasern und Gewebe“, sagt Verkaufsmanager Alexej Vidaski. „Unsere Hauptaufgabe ist nun zu überleben.“ Das Unternehmen will mit einem italienischen Unternehmen zusammenarbeiten, um Strumpfhosen zu produzieren. Doch die Restrukturierung erweist sich als schwierig. „Der größte Fehler war es, diese Großbetriebe in Lettland anzusiedeln, wo es weder Grundstoffe noch Arbeitskräfte gibt.“
Durch die forcierte sowjetische Industrialisierung wurde die Kleinstadt Daugavpils, die vor dem Krieg 40.000 Einwohner zählte, zu einem der bedeutendsten Industriezentren in Lettland mit hauptsächlich aus Rußland eingewanderten russischen Arbeitskräften. Die Letten stellen nur noch 13 Prozent der Bevölkerung. „Für viele Russen ist die Sezession eine Tragödie“, meint Vidaski. In den Straßen hört man oft Nostalgisches über die Vergangenheit: „In der Sowjetunion hatten wir wenigstens eine Zukunft.“
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