■ Querspalte
: Hymnologie & Liturgik

Wir wußten ja gar nicht, was wir bisher so schmerzlich vermißt haben. Berlin, so mußte der RIAS entsetzt feststellen, als er zur Olympia-Bewerbung eine CD mit Länderhymnen produzieren wollte, ausgerechnet die Bundeshauptstadt Berlin hat überhaupt keine Hymne. „Bei großen Ereignissen greifen wir auf die Nationalhymne zurück, bei der Ehrenbürgerwürde spielen wir Klassik, und bei volkstümlichen Anlässen tut es noch immer die ,Berliner Luft‘“, spielte Senatsprotokoll-Sprecher Wolf-Dieter Scholz das Problem herunter. Ja wo spielt denn dann zukünftig die Musike? Wer bläst den Marsch, wer spielt die erste Geige, wer feiert mit Pauken und Trompeten, wenn sich bei der Olympiade 2000 die Berliner Sportler auf den Siegertreppchen stapeln? Schreckliche Visionen schlagen uns schon jetzt auf den Magen und die Musikantenknochen. Denn weder der Regierende Bürgermeister noch die Parlamentspräsidentin, noch der Kultursenator denken daran, dieser brüllenden Stille ein Ende zu bereiten. Sie halten eine Berliner Hymne schlicht für überflüssig. Dabei bietet sich in dieser tonlosen Stille über der Hauptstadt die einmalige Möglichkeit der liturgischen Modernisierung an – eine Abart der postindustriellen Produktion, der unendliche Absatzmärkte offenstehen. Gesucht wird die Multikulti- und Multifunkti-Hymne. Je nach Stimmungslage der Stadt würden Melodie und Text in rascher Folge wechseln. „Am Sonntag will mein Süßer mit mir baden gehen“, würden beispielsweise Landowsky und Staffelt vor den nächsten Wahlen anstimmen, gefolgt vom Chor der Bild-Redakteure mit einem kleinen Zitat aus „Alle meine Entchen“. Hier würde dann der Finanzsenator mit „Help“ einsetzen, gefolgt von allerlei buntem Volk, bis dann schließlich die Elektriker der Bewag mit „Freude schöner Götterfunken, Kurzschluß im Elysium“ beim nächsten Stromausfall in der Stadt das gloriose Finale bestreiten. Ute Scheub