Timmans schwarze Tage

Die großmeisterliche Farblehre steht im Kandidatenfinale zwischen Jan Timman und Nigel Short kopf/ Short führt 3,5:2,5  ■ Aus El Escorial Stefan Löffler

Weiß beginnt, Schwarz gewinnt. Diese Kaffeehausspielerweisheit hat im Spitzenschach gewöhnlich wenig Berechtigung. Der Vorteil des ersten Zuges, gepaart mit dem Buchwissen unzähliger Eröffnungsvarianten, sichert dem Weißspieler in den meisten Partien die Initiative und die besseren Chancen. Mit Weiß wird in der Großmeisterpraxis fast doppelt so oft gewonnen wie mit den schwarzen Steinen. Gerade in Zweikämpfen, wo das Weißrecht von Partie zu Partie wechselt, gilt die Devise: Mit Weiß gewinnen, mit Schwarz auf Remis.

Als Nigel Short vor neun Monaten im Halbfinale des Kandidatenturniers Anatoli Karpow mit 6:4 schlug, lautete das Weiß-Schwarz- Score 8:2, Short gewann vier seiner fünf Weißrunden, Karpow nur zwei, die übrigen vier Partien endeten Remis, und Schwarz machte keinen Stich. Bei Jan Timmans 6:4 gegen Artur Jusupow war es genau dasselbe.

Beim Kandidatenfinale in San Lorenzo de El Escorial wurde die großmeisterliche Farblehre bisher auf den Kopf gestellt. In den ersten sechs Matchpartien zwischen Timman und Short hatte jeweils der Schwarzspieler die Initiative und die besseren Chancen. Runde zwei ging an Timman, Runde drei an Short, jeweils mit den schwarzen Steinen. Die vierte Partie begann Short, und zwar wie immer mit dem Vorstoß seines Königsbauern. Das kommentierte Richard Réti, ein Meister der zwanziger Jahre und der Begründer der „Hypermodernen Schachschule“, einst mehr im Scherz als im Ernst: „Nach 1. e2-e4 liegt die weiße Stellung in den letzten Zügen.“ Réti und seine Anhänger waren echte Schwarzseher: Weiß müsse seine Position zuerst schwächen, behaupteten sie frech.

Timman verteidigte sich sizilianisch, und obwohl es Short war, der im 14. Zug eine vorbereitete Eröffnungsneuerung zu Brett bringen konnte, stand sein niederländischer Kontrahent schon wenige Züge später besser. Ganz gegen seine Gewohnheit verzog Short immer wieder das Gesicht über seine Stellung, zog sein Jackett aus und krempelte an den Hemdsärmeln. Vor seinem 41. Zug versank Timman jedoch in tiefes Grübeln. Das sieht man häufig, denn vor dem 40. Zug müssen sich die Meister sputen, um die Zeitkontrolle zu schaffen, und geraten in der Eile leicht in eine Stellung, die erst einmal kopfschüttelnd neu begutachtet werden will.

Im Pressezentrum waren sich alle außer den englischen Reportern einig: Timman hatte dank eines Mehrbauern gute Aussichten, diese Partie zu gewinnen. Er mußte nur seinen Springer nach e7 stellen. Nach einer halben Stunde Nachdenken zog er ihn nach d8, und kaum hatten es die Monitore der Journalisten registriert, verkündete Großmeister Raymond Keene triumphierend: „Timman hat gepatzt.“ Gewöhnlich sind die Kommentare des Times-Korrespondenten patriotisch gefärbt, schließlich hatte Keene seinen Lesern einen klaren Erfolg Shorts angekündigt. Doch dieses Mal hatte er zum Entsetzen seiner objektiveren niederländischen Kollegen recht. Von einem Zug zum anderen sprachen alle Varianten für England. Timman vergrub derweil sein Gesicht noch tiefer zwischen den Händen und kam nicht einmal mehr dazu, während Shorts Nachdenken wie gewohnt hinter dem Bühnenvorhang auf und ab zu gehen, um seine Nervosität zu besiegen. Der Niederländer schleppte die Partie noch bis zum 59. Zug, dann war sie verloren.

Nach 41 Zügen hatte Weiß erstmals die Oberhand behalten, doch schon in der fünften Runde zeigte sich wieder das gewohnte Bild. Short spielte mit Schwarz und stand nach der Eröffnung besser. Doch er war wohl in alter Gewohnheit mit dem Ziel einer Punkteteilung ans Brett gekommen. Im 46. Zug flüsterte er ein Remisgebot. Timman beeilte sich, die Hand seines Gegenübers zu greifen. Am Künstlerausgang des Theaters, in dem gespielt wird, erklärte Short den verdutzten Journalisten, er habe keinen Gewinnplan gefunden. „Ich war erstaunt“, kommentierte sein Gegner das Remisgebot. „Short hatte eindeutig die besseren Chancen. Ob es zum Gewinnen gereicht hätte, kann aber nur die Analyse zeigen.“

Nach zwei Niederlagen in Folge war das Remis ein Lichtblick für Timman, der in der folgenden Partie Schwarz hatte. Im Gegensatz zu seinem Kontrahenten, der seinen Eröffnungen treu blieb, variierte Timman schon wieder sein Verteidigungssystem. Die „Guerillataktik“, den Gegner aus immer neuen Winkeln zu überraschen, ist eine Spezialität des eröffnungstheoretisch enorm beschlagenen Niederländers. Nach einem Bauernopfer erspielte er sich klaren Vorteil, doch mit viel Mühe gelang es Short, das Endspiel remis zu halten. Der Engländer führt nun mit 3,5:2,5 und hat heute nachmittag die schwarzen Steine. Wenn das kein Vorteil ist...