Feierlichkeiten zur Amtseinführung eines US-Präsidenten dienten schon immer dazu, Begeisterung zu stiften. Wenn Bill Clinton heute ins Weiße Haus einzieht, wird er einige Mühe haben, das sorgsam polierte Image des unverbrauchten Pioniers, das schon vor Amtsantritt gelitten hat, neu zu beleben. Aus Washington Andrea Böhm

Ein Hoffnungsträger mit ersten Beulen

Der Wettergott meint es gut mit den Clintons. Die Meteorologen haben für heute einen sonnigen Wintertag versprochen. Kalt, aber vermutlich nicht so kalt wie am Tag der Vereidigung von William Harrison 1841. Der hielt nach dem Amtseid auf dem Capitol bei eisigem Nordwind eine zweistündige Antrittsrede, erkältete sich – und starb einen Monat später an Lungenentzündung. Auch Bill Clinton ist für einen Hang zu langatmigen Ausführungen bekannt. Doch gleichzeitig hat er wie kein anderer Präsident die Fehler seiner Vorgänger studiert. Ein Schnupfen wird ihn nicht aus dem Amt werfen. Seit Sonntag morgen, als er symbolträchtig in Monticello, dem einstigen Anwesen des dritten Präsidenten der USA, Thomas Jefferson, nach Washington aufbrach, zelebriert Bill Clinton, was er ohnehin am liebsten tut: Harmonie und Einheit stiften. „American Reunion“ heißt der Party- und Paradenmarathon. Es ist ein Woodstock für den Mainstream, in dem zumindest in diesen fünf Tagen alle mitschwimmen und vermeintliche oder tatsächliche Erfolge begießen dürfen: Die Schwulen und Lesben werden ihren Aufstieg zur relevanten Lobbygruppe feiern, die Feministinnen den Wahlsieg von Hillary und fünf Senatorinnen, MTV zelebriert mit einer Inaugurationsgala die Aufnahme in das Reich der politischen Berichterstattung, die Delegationen aus dem Bundesstaat Arkansas schütteln mit Triumph und diversen Partys das Stigma der Ostfriesen Amerikas ab – selbst die Obdachlosen bekommen ihren eigenen Ball. Die Clintons haben die letzten Tage und Nächte nicht nur mit Kirchenbesuchen, Dinners und diplomatischen Empfängen verbracht, sondern Schüler und Studenten besucht, den „Martin Luther King Day“ am Montag demonstrativ in einer schwarzen Universität gewürdigt, um danach die „Faces of Hope“ zum Mittagessen einzuladen: fünfzig ausgewählte Bürger, deren Arbeit und Schicksal Bill Clinton während des Wahlkampfs besonders berührt hatten – darunter geläuterte Gang-Mitglieder der „Bloods“ und „Crips“ aus Los Angeles, Aids-Aktivisten aus Boston und Sozialarbeiter aus den New Yorker Ghettos. Ein amerikanisches Haus zu bauen, an dessen Tisch jeder Platz hat – das ist zur Zeit eine der beliebtesten Redewendungen des Bill Clinton.

Nun dienten die Feierlichkeiten der Inauguration schon immer dazu, Harmonie zu stiften. Beulen und Risse aus dem Wahlkampf lassen sich in einem gemeinsamen Ritual am besten heilen, wenn der neue Präsident am stärksten einem Monarchen ähnelt – eben kurz vor der Vereidigung. Darüber hinaus ist Bill Clinton den Amerikanern dieses 120stündige Spektakel schuldig. Schließlich hat er die Wahlen mit dem Versprechen gewonnen, eine zunehmend zerrissene Nation noch einmal für eine identitätsstiftende Pionierleistung zusammenzuholen: den wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbau des Landes.

Diese Vision ist in den letzten beiden Wochen der Übergangsphase, in denen Clinton immer mehr mit Alltagspolitik und ökonomischen Realitäten konfrontiert wurde, etwas verblaßt. Und so sehr man sich bemüht, sie durch die Feierlichkeiten wieder in den Vordergrund zu stellen, haftet ihrem Glanz jetzt schon etwas Trügerisches an, wirken die Rituale vor dem Lincoln Memorial, im John- F.-Kennedy-Center oder beim gemeinsamen „We Shall Overcome“-Singen am Martin-Luther- King-Gedenktag eher rückwärtsgewandt und nostalgisch als zukunftsorientiert. Das liegt nicht zuletzt an Clinton selbst, der Symbolik ebenso liebt wie Politik und sich mit einer Mischung aus ehrlichem Respekt vor der Historie seines Landes und Schamlosigkeit aus dem Geschichtsbuch bedient: Für seinen Einzug in die Hauptstadt zur „Reunion“ wählte er die Strecke, die 1801 Thomas Jefferson nach Washington zurückgelegt hatte. Von Andrew Jackson hat Clinton die Idee eines Tags der Offenen Tür im Weißen Haus zum Abschluß der Feierlichkeiten am Donnerstag übernommen.

Seine „Vereinigung mit dem Volk“ beendete er am Sonntag nach einem einmaligen Potpourri aus Pop, Kitsch, Patriotismus und exzellentem Entertainment mit den „Bells For Hope“. Punkt 18 Uhr Ortszeit schlug er mit Hillary, Al und Tipper Gore eine Kopie der Freiheitsglocke an – über Satellit verbunden klingelten Immigranten aus San Franciscos Chinatown, Indianer der Hopi-Reservation in Arizona, Clintons Kirchengemeinde in Little Rock, Arkansas und Coretta Scott-King in Atlanta, Georgia, mit. Es schien, als würde der melting pot noch einmal herbeigeläutet – unter Einbeziehung außerirdischer Regionen. Auf der Riesenleinwand am Lincoln Memorial war plötzlich auch die Besatzung der Space Shuttle „Endeavour“ zu sehen, die im schwerelosen Zustand kleine Nasa-Glöckchen schwenkte.

Gute und schlechte Wahlversprechen

Clinton will und muß noch einmal Enthusiasmus stiften. Denn das sorgsam polierte Image des unverbrauchten Hoffnungsträgers, der, getrieben von den Idealen eines Jefferson, Lincoln und Kennedy, dem Land den Wiederaufbau und damit vielleicht zum letzten Mal eine identitätsstiftende Pionierleistung verspricht, hat noch vor dem Amtsantritt gelitten.

Da sind zum einen Kandidaten für Ministerposten ins Gerede geraten. Ron Brown zum Beispiel, designierter Handelsminister, der Clintons Präsidentschaftskandidatur mit vorbereitet hatte, mußte auf öffentlichen Druck eine persönliche Siegesfeier absagen, die er sich durch Lobbygruppen aus der Privatwirtschaft, darunter ehemalige Mandanten seiner Anwaltskanzlei, finanzieren lassen wollte – 10.000 Dollar pro Tisch. Das ist im Kontrast zur Skandalchronologie der letzten drei republikanischen Administrationen ein eher lächerlicher Fehltritt. Doch die neue Regierung tritt mit dem Versprechen an, eine andere, integre Spezies des Politikers hervorzubringen: sauber, ehrlich, frei vom Druck der mächtigen Interessengruppen. Nicht daß das jeder glauben würde, aber die Öffentlichkeit will nicht schon vor dem Amtsantritt des neuen Kabinetts eines Schlechteren belehrt werden. Es bedurfte offenbar klärender Worte des zukünftigen Präsidenten, um Brown klarzumachen, daß solche Partys nicht mit den neuen ethischen Prinzipien und Richtlinien einer Clinton-Administration zu vereinbaren sind. Zumindest dann nicht, wenn die Presse Wind davon bekommt.

Mehr noch als Ron Brown, der vom Einfluß privatwirtschaftlicher Lobbygruppen so frei ist wie ein Formel-1-Wagen von Reklame, haben einige Wahlversprechen Clintons Reputation angekratzt. Dabei ging es weniger um die Tatsache, daß er sie gebrochen hat, als um die Form. Der Stab des Weißen Hauses wird nicht wie angekündigt um ein Viertel reduziert, das Haushaltsdefizit nicht innerhalb einer Amtszeit halbiert, die Steuerbelastung für Amerikas Mittelschicht vorerst nicht reduziert. Das war nun jedem, der des Rechnens mächtig ist, seit dem Wahlkampf klar. Doch im Verlauf dieser Kehrtwendungen ist plötzlich wieder jener Slick Willie zum Vorschein gekommen, der als Präsidentschaftskandidat bei unangenehmen Fragen Gedächtnislücken, vage Formulierungen oder eine gehörige Portion Opportunismus bei der Interpretation eigener Statements demonstrierte. Nirgendwo wurde dies deutlicher als bei der Kehrtwende in der Haiti- Politik. Seine Zusage, haitianischen Boat people zumindest eine Anhörung ihres Asylantrags zu garantieren, anstatt sie ohne Federlesens abzuschieben, war plötzlich nicht mehr so gemeint, wie er sie noch im Mai letzten Jahres formuliert hatte.

Außenpolitisch beschwört Clinton Kontinuität

Abgesehen davon, daß Clinton nun genauso gegen herrschende Gesetze verstößt wie sein Vorgänger, wirft es einen beunruhigenden Schatten auf sein Verhalten in zukünftigen außenpolitischen Krisen. Die Kehrtwende im Fall Haiti war eine Panikreaktion, als klar wurde, daß pünktlich zu Clintons Amtsantritt am 20.Januar noch kein unterschriftsreifer Kompromiß zwischen dem gestürzten haitianischen Präsidenten Aristide und den Putschisten in Port-au- Prince in Sicht sein würde.

Die Aufbruchstimmung ist in den letzten Wochen auch durch die Dominanz der Außenpolitik gedämpft worden. Nicht die Situation auf dem Arbeitsmarkt oder die Reform des Gesundheitswesens beherrschen die Schlagzeilen, sondern Bosnien, Somalia und Saddam Hussein – Themen, zu denen Clinton im Wahlkampf gerne den Mund aufgemacht hat, zu denen er als Präsident aber nicht viel Neues zu sagen weiß. Außenpolitisch beschwört Clinton Kontinuität zu seinen Vorgängern. Was immer das im konkreten Fall heißen wird, die Dominanz des foreign policy establishment stört nicht nur Isolationisten rechter Couleur, sondern auch viele Linke, die Clinton gerade wegen seiner innenpolitischen Prioritäten unterstützt haben und ihm immer wieder die Fakten vorlegen, die er selbst am besten weiß: Die Arbeitslosigkeit liegt bei über sieben Prozent, 35,7 Millionen Amerikaner leben unterhalb der Armutsgrenze, 35,4 Millionen sind ohne jede Krankenversicherung, das Durchschnittseinkommen sinkt beständig, die wirtschaftliche Infrastruktur des Landes ist in weiten Teilen verrottet. Aufsteigende Tendenz zeigt lediglich das Haushaltsdefizit.

In einem Interview mit der Fernsehgesellschaft ABC gestand Clinton vor ein paar Tagen selbst ein, daß ihm angesichts der bevorstehenden Aufgaben manchmal die Luft wegbliebe. Er fühle sich streckenweise wie ein Hund, der dem Lastwagen hinterherjagt. „Ich habe ihn eingeholt, aber was mache ich jetzt?“

Was der Ex-Gouverneur aus Arkansas als erstes bereuen dürfte, sind die Erwartungen, die er selbst geweckt hat. In den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit will er die Weichen seiner Administration stellen. Sein Wirtschaftspaket zum Wiederaufbau der Infrastruktur und Schaffung von Arbeitsplätzen wollte er führenden Kongreßmitgliedern unmittelbar nach Amtsantritt vorlegen. Das ist mittlerweile ebenso unrealistisch wie das Versprechen, innerhalb der ersten hundert Tage einen umfassenden Plan zur Reform des Gesundheitswesens vorzulegen. Der wiederum ist notwendige Voraussetzung, um das Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen.

Unternimmt Bill Clinton in den ersten hundert Tagen nicht wenigstens glaubwürdige Anstrengungen, dann wird er auf einen alten Kontrahenten treffen, den er eigentlich beerben wollte – zumindest, was dessen Wählerschaft betrifft: Ross Perot hat am letzten Montag sein Comeback bekanntgegeben und rekrutiert seitdem landesweit Mitglieder für seine Organisation „United We Stand“, die in Washington vor allem die Haushaltspolitik der Clinton-Administration im Auge behalten will. Innerhalb von zwölf Stunden nach einem Fernsehauftritt Perots meldeten sich 250.000 InteressentInnen. Der Texaner will bis Ende des Jahres eine Million Mitglieder versammelt haben – keine schlechten Voraussetzungen, um bei Bedarf eine neue Partei zu gründen.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Es herrscht weiter Aufbruchstimmung, und Clinton genießt nach wie vor den Bonus eines Repräsentanten einer neuen Ära. Die schließt in diesem Fall mit ein, daß erstmals in der Geschichte der USA die Supermacht von einem Ehepaar regiert wird. Hillary Clinton ist die erste First Lady, die mit ihrem politischen Einfluß und ihrem Machtwillen nicht hinter dem Berg halten wird. Der engste Berater des Präsidenten wird nicht Anthony Lake, Al Gore oder Bruce Lindsey heißen, sondern Hillary Clinton. Im Wahlkampf wurde ihr Image noch zu dem einer fortschrittlichen Gattin umgemodelt, die zwar ihren eigenen Kopf hat, aber trotzdem weiß, wo ihr Platz ist: lächelnd an der Seite ihres Mannes. Inzwischen machen die Clintons keinen Hehl daraus, daß sie gemeinsam Politik machen wollen. Welchen Menschen er bei schwierigen Entscheidungen im Zimmer haben möchte, wurde Bill Clinton unlängst gefragt: „Hillary“, lautete die Antwort. Insofern hat Bill Clinton nun, nach einigen Ausweichmanövern, ein uraltes Wahlversprechen wahrgemacht. „Buy one, get one free“, erklärte er fröhlich im Vorwahlkampf, was so viel heißen sollte wie: Kauft mich, und Ihr kriegt sie umsonst dazu.

Wenn sie Erfolg haben, dürfen sich Bill und Hillary bei ihrem Abgang als das erfolgreichste Ehepaar der jüngeren Geschichte feiern lassen. Wenn nicht, dann war er ein Schwächling und sie Lady Macbeth.