„Nur noch ein Kopf und wir sind gerettet!“

Der Tag der Hinrichtung Louis Capets (vormals Ludwig XVI.) gilt heute nicht mehr als einer der großen Tage der Französischen Revolution, aber der Prozeß gegen ihn sollte in unserem Jahrhundert eine bittere Fernwirkung haben.  ■ Von Christian Semler

Eine Ewigkeit scheint es her zu sein, und doch sind nur wenige Jahre vergangen, seit die Mitglieder der Société des Études robespierristes zum letzten Mal den Tag der Hinrichtung Louis Capets, vormals Ludwig XVI., mit einem althergebrachten Festmahl feierten: mit gekochtem Kalbskopf in erlesener Kräutersauce. Diese kannibalistisch-kulinarische Verhöhnung des geköpften Monarchen war in Frankreich unter dem Directoire in Mode gekommen, nach 1795, als außer ein paar versprengten Linken niemand in Paris mehr um seinen Kopf fürchten mußte. Die Idee zu dem Festschmaus war allerdings älteren Datums. Die Puritaner Cromwells hatten sich alljährlich am Kalbskopf delektiert, um der Enthauptung Karl Stuarts zu gedenken, eine Übung, die für einige von ihnen nach der Restauration der Monarchie freilich üble Folgen zeitigte.

1989, im zweihundertsten Jubeljahr der Französischen Revolution, war keine Rede mehr vom Kopf der Tyrannen und vom Schabernack mit ihnen an Hinrichtungstagen. Es war das Jahr der osteuropäischen Revolutionen, die die humanen Versprechungen von 1789 aufs schönste zu bestätigen schienen. Friedlich, samten, gewaltlos sollte die realsozialistische Machtelite aus den Regierungssesseln gebeten werden. Das Totenglöckchen, das ihr hunderttausendfach mit dem Schlüsselbund auf dem Prager Wenzelsplatz geläutet wurde, hatte eine strikt symbolische Funktion: Geht in Frieden, aber geht. Sehr zum Ungemach einiger alter oder neugebackener (Biermann!) Konservativer, die nach ein wenig Blut und dem damit angeblich verbundenen, reinigenden Effekt dürsteten, baumelte keiner der ehemaligen großen oder kleineren Würdenträger an der Laterne.

Eine historische Lehre?

1989 verhielt sich die Volksbewegung, als ob sie die Lehren aus einer blutigen historischen Lektion beherzigen würde, die ihre Spur von den Terrorjahren 1793/94 in Frankreich über die Jahre der Revolution und des Bürgerkrieges 1917 bis 1921 in Rußland bis zu den Revolutionen in China und Südostasien gezogen hatte. Das Jahr 1989 stieß aber auch endgültig eine geschichtliche Interpretation vom Thron, die nicht nur die spontanen Gewalttätigkeiten in den Tagen der Massenerhebungen gerechtfertigt hatte, sondern auch den systematisch geübten Terror „von oben“. Drei Generationen lang hatte seit der Oktoberrevolution die progressive Geschichtsschreibung der Französischen Revolution ganz im Bann der Kontinuität von 1789 zu 1917 gestanden. Seit den 20er Jahren war für sie Robespierre ein Vorläufer Lenins, wie Lenin ihr als Vollender der revolutionären Jakobinerdiktatur galt. Zwar wurde die klassenmäßige Begrenztheit dieser Diktatur stets hervorgehoben. Gleichzeitig wurde ihr aber bescheinigt, daß sie auf ihrem Höhepunkt die Forderungen und Bedürfnisse der Volksmassen zum Ausdruck brachte, daß sie auf dem „Weg zur Volksdemokratie“ war. Diese progressiven Geschichtsforscher folgten mit ihrem geschichtsphilosophischen Schema einfach dem Selbstverständnis der Bolschewiki, die von Lenin bis Trotzki nie aufgehört hatten, ihre eigene Revolution in den Kategorien der großen französischen zu denken. Die Konterrevolution, der Thermidor, dem die Jakobiner zum Opfer gefallen waren, konnte den Bolschewiki zufolge in Rußland vermieden werden. Denn während der Thermidor die bürgerliche Klassenherrschaft zementierte und damit die Revolution als bürgerliche „objektiv“ vollendete, war in Rußland das Proletariat und seine Vorhut Träger des historischen Prozesses. Dessen Objektivität jedoch wies in die klassenlose Gesellschaft. Der organisierte Terror der Jakobiner mußte eine heroische Episode bleiben, der bolschewistische aber setzte eine gesetzmäßige Tendenz frei – daher das strikt instrumentelle Verhältnis der Mehrzahl der russischen Revolutionäre zur Gewaltanwendung. Die Liquidierung der gesamten Zarenfamilie in Jekaterinenburg ohne auch nur den Schein einer Gerichtsverhandlung wollte einfach die Lehren aus dem Fehler ziehen, der den Jakobinern nach Meinung der Bolschewiki mit ihrem öffentlichen Prozeß gegen Ludwig XVI. unterlaufen war.

Denn die Abgeordneten des Konvents, die sich nach dem Sturm auf die Tuillerien und dem Sturz der Monarchie im August 1792 kollektiv zum Tribunal gegen Ludwig XVI. konstituierten, waren keineswegs frei von rechtlichen Skrupeln, frei von Mitleid. Nicht nur die Anhänger der rechtsliberalen Gironde, sondern auch viele der Jakobiner (darunter auch Robespierre) waren ursprünglich überzeugte Gegner der Todesstrafe. Ihr Haß auf die Tyrannei hatte dem System des Ancien Régime gegolten, nicht seinem gekrönten Haupt. Die meisten der Abgeordneten sahen Ludwig XVI. zum ersten Mal, als er sich vor den Schranken des Parlaments, bequem in einem Fauteuil sitzend, zum Vorwurf des Hochverrats äußerte. Mit angehaltenem Atem, in vollkommener Stille, hörten sie die Antworten eines Mannes, der eigentlich genauso war, wie die meisten Revolutionäre sich gerne sahen: ein braver, tugendhafter Biedermann. Ähnlich wie später Zar Nikolaus II. hatte Ludwig keinerlei Vergnügen an der unumschränkten Herrschaft. Ähnlich wie er war er ein rührender Familienvater, liebte seine Frau (sie allerdings ihn nicht) und entwickelte ein Geschick in der Pflege und Wartung seiner Uhrensammlung, das ihn unter einem günstigeren Stern zum angesehenen Mitglied der Horlogers-Gilde hätte aufsteigen lassen. Anders als die bürgerlichen Revolutionäre war Ludwig ungeschickt im Reden, mißtraute auch der allzu brillanten Rhetorik der „Schriftsteller“ und Advokaten. Dieser unambitionierte, von der Mittelmäßigkeit seiner eigenen Anlagen überzeugte Mensch war dennoch durch und durch (und auch darin Nikolaus ähnlich) vom Gottesgnadentum durchdrungen, von der ihm auferlegten Pflicht, unumschränkt über seine Landeskinder zu herrschen. Er war von einer penetranten, bigotten Frömmigkeit. Diese letztere Eigenschaft war schon für Jules Michelet, den großen liberalen Revolutionshistoriker des 19.Jahrhunderts, die Erklärung dafür gewesen, daß Ludwig es fertig brachte, die über ihn urteilende Versammlung mit einer unglaublichen Dreistigkeit zu belügen. Er sah sich nur Gott verantwortlich – und seinem Beichtvater.

Fast alle Abgeordneten waren davon überzeugt, daß Ludwig seinen Eid auf die Verfassung von 1791 gebrochen, daß er mit ausländischen Mächten, die Frankreich bekriegten, konspiriert, daß er Hochverrat begangen hatte. Diese Überzeugung wurde nach 1815, nach der Restauration, vielfach bestätigt. Allein zum Zeitpunkt des Verfahrens waren die Beweise dünn, auch die zur rechten Zeit in einem geheimen Panzerschrank aufgespürten Dokumente konnten den entscheidenden Beweis nicht liefern. Aber nicht diese Beweislage stand im Zentrum des Prozesses, sondern die Rechtmäßigkeit und mehr noch die Berechtigung des ganzen Verfahrens. Als König, darauf wurde die Verteidigung unter dem großen alten Aufklärungs- Juristen Malesherbes nicht müde hinzuweisen, stand Ludwig verfassungsmäßig außerhalb der Gerichtsbarkeit. Als Bürger Louis Capet aber war er nicht für Taten zu belangen, die er vor seiner Absetzung begangen hatte. Und wieso konnte der Bürger von einem Gremium abgeurteilt werden, das Gesetzgeber, Ankläger und Richter in einem war?

Die zwei Monate andauernde Debatte über diese Verfahrensfragen förderte alle Argumente zutage, die in den politischen Prozessen des 20.Jahrhunderts eine so verhängnisvolle Rolle spielen sollten. Für den radikalen Flügel der Bergpartei formulierte der 22jährige Abgeordnete St. Just in einer gemeißelten, vom römisch-republikanischen Geist der Epoche bestimmten Rede am 15.November die Ablehnung eines regulären Strafprozesses: „Dieselben Männer, die Ludwig richten werden, haben eine Republik zu gründen. Jene, die der gerechten Abstrafung eines Königs irgendeine Bedeutung beimessen, werden niemals eine Republik gründen. (...) Ich sehe keinen Mittelweg: Dieser Mann muß herrschen oder sterben.“ Und wenig später zog Robespierre die praktische Nutzanwendung aus der Maxime von St. Just: „Hier ist kein Prozeß zu führen. Ludwig ist kein Angeklagter, und ihr seid keine Richter. Ihr seid nur Staatsmänner und Vertreter der Nation, nichts anderes könnt ihr sein. Ihr habt kein Gerichtsurteil für oder gegen einen Menschen zu fällen, sondern eine Maßnahme des Staatswohls zu treffen, einen Akt nationaler Vorsehung zu vollziehen. (...) Mit Schmerz spreche ich die verhängnisvolle Wahrheit aus: Es ist besser, daß Ludwig stirbt, als daß 100.000 tugendhafte Bürger umkommen. Ludwig muß sterben, weil das Vaterland leben muß.“ Der Monarch ist aus dem Contract social ausgeschlossen. Er ist ein Schädling kraft Funktion. Diese Melodie wird das Leitmotiv einer Politik sein, der 130 Jahre später die „objektiven“ Klassenfeinde zum Opfer fallen werden. Sie präludiert den Vernichtungsfeldzügen der Tscheka, der GPU, auch dies Organisationen, an deren Spitze zu Anfang sensible, rechtlich denkende Geister standen. Sie wird noch dem existientialistischen Philosophen Merleau- Ponty in seinem „Humanismus und Terror“ die Feder führen, der die Rechtmäßigkeit der Moskauer Prozesse 1936 bis 1938 verteidigte, während er gleichzeitig von der Unschuld der Angeklagten überzeugt war.

Die Gegenposition auf der Seite der Montagnards, der radikalen Partei des Berges, nahm Jean-Paul Marat ein. Er bestand auf einem Gerichtsverfahren, das so legal wie den Umständen nach möglich zu gestalten war. Das Parlament sollte durch den Prozeß die Massen zu demokratischem Selbstbewußtsein erziehen. Indem der König als Bürger vor Gericht erschiene, verlöre er seine sakrale Aura. Noch der entschlossenste Sansculotte sei von dieser Scheu von der Unberührbarkeit angekränkelt, sie hindere ihn daran, bis zur letzten Konsequenz Republikaner zu sein. Außerdem stand für Marat fest: Die Hinrichtung des Königs wird dem Verfahren gegen die verräterische Gironde den Weg ebnen. „Wenn das geschehen ist, werden wir sehen, wie das Reich der Freiheit und Gleichheit Einzug hält, denn noch leben wir unter der Herrschaft der Mißbräuche, der Unordnung und der Anarchie.“ Der human inspirierte Terror unseres Jahrhunderts wird auch dieses Motiv aufnehmen – der Prozeß als volkserzieherische Veranstaltung, wie die Marat-Editorin Aglaja Hartig das Unternehmen genannt hat. Noch in den 70er Jahren werden die ArbeiterInnen in den tschechischen Industriebetrieben – selbstverständlich ohne Kenntnis der Dokumente – auf Vollversammlungen die staatsfeindlichen Aktivitäten der Charta77 zu verurteilen haben. Und sie werden revolutionäre Wachsamkeit geloben, das einzige Feld, auf dem der bewaffnete Arm der Revolution ihnen Initiative und Selbsttätigkeit zugestehen wird.

Entsprach dieses martialische „Des Königs Kopf und noch 500 weitere – und die Republik ist gerettet“ wirklich den Massenstimmungen des Jahres 1793? Zwar gibt es Stellungnahmen einer Reihe von Volksgesellschaften, die Ludwigs Ende forderten und das presto. Aber die erhaltenen Dokumente lassen wenig Zweifel daran, daß die Franzosen in ihrer Mehrheit gegen die Todesstrafe für die entthronte Majestät waren. Dies wiederum war der Gironde, die im Konvent über eine relative Mehrheit gebot, nur zu klar. Mit ihrem Vorschlag, das Urteil des Parlaments durch die Versammlung der Urwähler bestätigen zu lassen, wollte sie die Montagne mit deren eigenen Waffen schlagen: dem Rekurs auf die Souveränität des Volkes. Aber diese Taktik war zweischneidig, denn von ihrer Klassenbasis her war der Gironde die unmittelbare Volksherrschaft ein Greuel. Die Girondisten waren in ihrer Mehrzahl keineswegs die verkappten Royalisten, als die die jakobinische Agitation sie später zu porträtieren suchte. Aber ihr Republikanismus war temperiert durch ihre Geschäftsinteressen. Sie kämpften gegen Ludwigs Hinrichtung nicht aus einem rechtsstaatlichen Prinzip heraus, sondern um der Montagne, um dem drohenden Preisstopp, um der Gefahr einer Bodenreform zu begegnen. Sie zauderten und schwankten. Das gab den – denkbar knappsten – Ausschlag bei der Antwort auf die letzte der drei Fragen an den Konvent, über die am 17.Januar namentlich und 24 Stunden lang abgestimmt wurde: Welche Strafe soll Ludwig erhalten? 387 Abgeordnete stimmten für den Tod, 334 dagegen. die Mehrheit lag bei 350 Stimmen.

Letzter Rettungsversuch

In der chaotischen, verwirrten Debatte, die dieser Abstimmung folgte und in der es um den Aufschub der Hinrichtung ging, behielt einer einen kühlen Kopf: Thomas Paine, amerikanischer Revolutionär und Mitglied des Konvents. Von Anfang an war er, der Montagnard, für Gefängnis und Verbannung bei Friedensschluß eingetreten – in die Vereinigten Staaten, wo Louis Capet endlich gemäß seinen wahren Fähigkeiten leben könnte. Jetzt setzte er sich für den Aufschub ein, weil er klarsichtig erkannte, daß als Folge der Hinrichtung Frankreich seinen wertvollsten Verbündeten verlieren würde – die USA. Sein Einsatz blieb vergeblich. Mit dem Argument, ein Hinrichtungsaufschub veletze das Gebot der Menschlichkeit gegenüber dem Verurteilten, setzte sich der Konvent über den Antrag auf Aufschub hinweg.

Ludwig starb einen mutigen Tod. Alle Befürchtungen, die an die Folgen des Todesurteils geknüpft waren, trafen ein. Es kam die Schreckensherrschaft, das Directoire, schließlich Napoleon, der dem modernen bürgerlichen Frankreich seine Form gab und der die Phantasie der Franzosen viel nachhaltiger gefangen hielt, als die Antagonisten des Jahres 1792 bis 1794 es vermochten. Heute ist Thomas Paines Votum, eine jüngste Umfrage belehrt uns darüber, die Mehrheitsmeinung der Franzosen: 63Prozent für die Verbannung, 20 für den Kerker, neun für den Tod. Aber in der Frage, ob das Todesurteil ein schwerer Irrtum war oder eine politische Notwendigkeit, bleibt die Nation gespalten: 49 gegen 48 Prozent.