■ Modernisierungstendenzen der Mafia
: Aus dem Innern der Bestie

Die Verhaftung Salvatore Riinas trägt nicht zu einer Entspannung der gesellschaftlichen Situation in Sizilien und ganz Italien bei. Die Dinge werden mit Sicherheit sogar noch komplizierter. Mehrere Male schon – 1962, 1973, 1984 – haben ähnliche Verhaftungserfolge die Öffentlichkeit in Sicherheit gewiegt, während die Mafia sich in aller Stille auf höherer Ebene reorganisierte.

Die wirkliche Gefahr droht von mindestens drei Seiten: von dem durch Riinas Festnahme entstehenden Verlust der „ordnenden“ Hand der Mafia im Untergrund, von der vordergründigen Personalisierung eines in Wirklichkeit längst nicht mehr personengebundenen, politisch tief verankerten Systems und durch die Ablenkung von sozusagen „mafiaparallelen“ Vorgängen wie der Einführung illegaler Kapitalien in den Wirtschaftskreislauf unter immer massiverer Konditionierung politisch- gesellschaftlicher Entwicklungen.

Der sicherlich deutlichste Effekt ist das durch die Festnahme Riinas entstehende „Machtvakuum“ innerhalb der sizilianischen und auch gesamtitalienischen Unterwelt. Die Mafia hatte innerhalb der gesamten Kriminalität, auch der unorganisierten, eine überaus zentrale Ordnungsfunktion, wie immer man dies auch goutieren mag: nichts ging ohne ihr Placet.

Doch schon in den letzten Monaten, als den Behörden scharenweise Aussteiger aus den Clans zuliefen und sich nach der Ermordung Falcones und seines Nachfolgers Borsellino der polizeiliche Druck auf die „Uomini d'onore“ verstärkte, haben der Mafia nicht zugehörige Gruppen die alten „Clans“ immer stärker herausgefordert. Zahlreiche Gemeinden melden bereits, daß inzwischen die Grausamkeit und Brutalität der Banden noch flächendeckender und fataler sind als während der Herrschaft der Mafia.

Neben dieser Gefahr des Aufstiegs bisher eher marginaler Gruppen wird auch die innermafiose Neustrukturierung ihren Blutzoll fordern: Zwar sorgt die „Cosa Nostra“ seit jeher für den Fall einer Verhaftung ihrer Spitzenleute vor, Riina wird also längst einen Nachfolger haben. Doch damit ist keineswegs gesagt, daß dieser auch die nötige Autorität besitzt. Denn die Mafia ist, im Gegensatz zu der oft berufenen reinen Gehorsams- und Ehrenkodexmaschinerie, nur in der Theorie eine festgefügte Organisation.

In einem Buch, das der Mafia- Experte Pino Arlacchi aus langen Gesprächen mit dem ausgestiegenen Mafia-Führungsmitglied Antonino Calderone zusammenstellte (es erscheint im Februar als „Mafia von innen“ im Fischer Verlag), zeigt sich parallel zu der feierlich beschworenen Treue- und Fürsorgepflicht der „Männer der Ehre“ eine geradezu bestialische Hackordnung, eine Anarchie der Konkurrenz, in der jeder jeden nur belauert und versucht auszuhebeln. Mafia-Fahndern macht genau diese Chaotik seit jeher besonders zu schaffen, weil mitunter all ihre Erkenntnisse über Allianzen und Feindschaften unter den Clans von einem Moment zum anderen zur Makulatur werden.

In solch einem „chaotischen“ Zustand befindet sich die Mafia wahrscheinlich jetzt, wo der nominelle Chef aller Gruppen aus dem Verkehr gezogen wird, wie derzeit Riina. Mögen die Behörden, mag die Presse dem Mann am Ende auch viel zuviel Macht und Mordaufträge unterstellt haben: seine Verhaftung erfordert in jedem Falle eine Neueinpendelung des innermafiosen Gleichgewichtes, was erfahrungsgemäß zu heftigen internen Kämpfen mit vielen Toten führt – Ermittler nicht ausgeschlossen.

Schon sorgt sich ein Mitarbeiter des soeben in Palermo eingeführten neuen Generalstaatsanwaltes Caselli: „Hoffen wir, daß es uns am Ende nicht geht wie den Unternehmern in den 70er Jahren, als sie mit Politikerhilfe die Macht der großen Gewerkschaftsbosse brachen: Inzwischen sind Hunderte kleiner Gruppen, wie etwa die ,Basiskomitees‘, entstanden, die mit wenig Mitteln große Paralyse erreichen. Den Arbeitgebern aber fehlen nun die angesehenen Gewerkschaftsführer, die Millionen Arbeiter unter Kontrolle hatten.“ Ein sicherlich schiefer, aber doch sprechender Vergleich.

Die zweite Gefahr besteht darin zu glauben, man könne dem mafiosen System durch die Verhaftung des einen oder anderen Bosses noch Einhalt gebieten. Die Mafia wurde von einer einst klaren und rein personengebundenen Organisation längst zu einem System, in dem die einzelnen Figuren ohne weiteres auswechselbar sind. So lange die Clans noch mit der Bereicherung durch Schutzgelderpressung oder öffentliche Aufträge, Organisierung des Schmuggels, des Drogenhandels, der Waffenschieberei beschäftigt waren, bedeutete die Festnahme eines wichtigen „Uomo d'onore“ tatsächlich einen Schlag gegen die Organisation selbst.

Doch heute sind die wichtigsten Clans längst nicht mehr hauptsächlich mit dem Rauschgift- und Waffenhandel beschäftigt: inzwischen managen sie die Anlagen ihrer immensen Kapitalien, kaufen sich zusammen mit befreundeten Gruppen im Ausland ganze Republiken oder konditionieren diese mit Hilfe jederzeit möglicher Wechselkurs- und Börsenmanöver. All das geschieht längst nicht mehr über Männer mit schwarzen Geldkoffern, sondern mit Unterstützung von Computern, Anwälten und Agenten – nichts ist mehr angreifbar, selbst die besten Gesetze helfen da nicht, und auch Verhaftungen nicht.

Insofern ist die Euphorie, die Riinas Festnahme begleitet, geradezu dramatisch gefährlich. Hellsichtige Ermittler, Experten und auch Innenminister Nicola Mancino sorgen sich denn auch bereits um ein ganz anderes Phänomen: die Formierung illegaler, geheimer Logen und Bruderschaften. 1981/82 war als Musterfall einer solchen hochkriminellen Vereinigung die Loge „Propaganda 2“ enttarnt und ausdrücklich verboten worden. Ihr damaliger Chef Licio Gelli wurde nur milde bestraft, weil ihn das Fluchtland Schweiz mit engen prozessualen Restriktionen auslieferte; es gibt Indizien, daß er seinen Verein erneut aufzubauen versucht.

Dabei gilt der „Maestro venerabile“ nicht mehr als der gefährlichste der geheimen Brüder. Der nach Falcone ermordete Richter Paolo Borsellino hatte sich kurz vor seinem Tod fast nur noch um die in seinem Gebiet entstandenen Geheimlogen gekümmert. Viele von ihnen sind inzwischen eng mit Spitzenfiguren aus dem mafiosen Milieu verbündet. Das bedeutet einerseits, daß die gigantischen Kapitalien der Mafia über noch unbekanntere Kanäle der Logen fließen. Und es heißt zudem, daß Mafia-Spitzenleute in die politischen und gesellschaftlichen Projekte eingebunden werden, die die Logen seit jeher pflegen.

Die meisten Ermittler in Sachen Falcone und Borsellino sind denn mittlerweile auch überzeugt, daß den beiden weniger ihre Anti-Mafia-Tätigkeit zum Verhängnis wurde, sondern vielmehr ihre Ermittlungen der Transformation und Integration mafioser Strukturen in die mit hoher politischer Protektion ausgestatteten Logen. Werner Raith, Rom