Unvermeidliche Widersprüche

100 Jahre IG Metall – Fortschritt und Mythos. Ein Rundgang ganz in der Tradition der Moderne  ■ Von Barbara Häusler

Mit der Institution Gewerkschaft assoziiert auch das Nicht- Mitglied gemeinhin nützliche Begriffe wie Arbeitskampf, Interessenvertretung, Tarifrunde und innerbetriebliche Mitbestimmung. Gegenüber ihren kulturellen Manifestationen hält sich allerdings ein hartnäckiger Argwohn. Denn die Ästhetik von 1.-Mai-Feiern und anderen gewerkschaftlichen Großveranstaltungen erschöpft sich gewöhnlich im Aufspannen bunter Transparente, dem Auftritt in die Jahre gekommener Protestsänger und jeder Menge Luftballons. Eine Ausstellung zum hundertsten Geburtstag der größten Einzelgewerkschaft der Welt läßt daher zunächst Böses ahnen.

Auf zwei Stockwerken des Ausstellungszentrums am Fernsehturm präsentiert sich die IG Metall als Motor der Moderne, bekennt dabei jedoch selbstbewußt und selbstkritisch ihren Anteil an der Hybris dieses Begriffs. Denn mit der Gleichsetzung von (industriellem) Fortschritt und Moderne bastelte auch sie kräftig mit am Mythos eines übermütigen Programms, das sich erfahrungsgemäß bisher nicht eingelöst hat: individuelle Entfaltung, Wohlstand und soziale Sicherheit, im festen Glauben an unbegrenzte Machbarkeit und die Beherrschbarkeit der Welt. Das zentrale Werkzeug dieser Beherrschung und Symbol ihrer Idee, die Maschine, wird dabei ebenso zum Mythos wie der Ort ihrer Anwendung, die Arbeitswelt. Und selbst der Mensch gerät im „Projekt Moderne“, als Produzent des gesellschaftlichen Fortschritts und als Adressat einer aufgeklärten Vernunft, in einen Strudel neuer Mystifikationen und bedauerlicher, wenngleich unvermeidlicher Widersprüche.

Die Ausstellung, die zuvor bereits in Stuttgart und Frankfurt zu sehen war, überrascht mit dem Versuch, diese Ambivalenzen sichtbar zu machen. In zwei Abteilungen – Technik und Mensch – und neun Kapiteln konfrontiert sie den wandelbaren Maschinenmythos mit ironischen, kritischen und teilweise makabren Installationen und Objekten zeitgenössischer Künstler. Versprochen wird – nicht mehr ganz zeitgemäß – ein „dekonstruktivistischer Spaziergang durch die Fabrik“, ein Anspruch, der sich letztlich leider weder durch die Qualität der ausgesuchten Objekte noch in deren Präsentation einlöst.

In der oberen Etage steht die Maschine im Zentrum. In absteigender Reihenfolge wird sie uns vorgeführt als Fortschrittsgarant, Moloch, Todesmaschine und schließlich in selbstreferentieller Sinnlosigkeit. Der Rundgang beginnt ordnungsgemäß am Werktor, ein weiteres Mal gesäumt von „Schmied“ und „Gießer“, den Portraitfiguren der Borsigwerke von 1883. Wir befinden uns bei den Metallern: Hier ist die Maschine nicht nur Produzent, sondern auch Produkt. Kolben und Räder sind das Alphabet, Mechanik und Kinematik die Grammatik jeder großen Maschine. Folgerichtig sehen wir technische Konstruktions- und Detailzeichnungen, Modelle von unglaublich komplizierten Zahnrädern, in denen Rhomben sich mühelos mit Dreiecken paaren, Sterne und Ovale sich millimetergenau zu noch unbekanntem Zweck verzwirbeln. Eine riesige, an der Wand rotierende Scheibe spielt derweil, die Zeit vertreibend, eine Art Eierlauf mit sich selbst („Chronos“ von Christos Bouronikos).

Technikstolz und die Lust am perfekten Funktionieren belegen auch die liebvoll-naturgetreuen Nachbildungen mehrerer Dampfmaschinen. Waren diese Miniaturen zunächst vielleicht als Waren- Muster gedacht, erstarrt die Ikone des Fortschritts bei ihrem Einzug in die heimischen Sammler-Vitrinen zu einem genuin ästhetischen Objekt. Den endgültigen Übergang vom heiligen Ernst des Anfangs zum produktionsenthobenen Maschinen-Spiel von heute bewacht der „Dockarbeiter“ von Charles Meunier. Das heroische Bild vom Arbeiter des ausgehenden 19. Jahrhunderts wird zum Todesengel seiner Gattung, denn hinter seinem Rücken spielt sich Fürchterliches ab.

Hier wackelt, rotiert, lärmt und blinkt nämlich in aufreizender Nutzlosigkeit der „Maschinenpark“ von Dirk Erhard. Doch die vorgebliche Distanz ist trügerisch. Funktionsbefreit, gleichwohl funktionsverliebt, wird bei diesem Haufen elektro- mechanisch überdeterminierter Hupfdohlen Ironie mit Albernheit verwechselt.

Walter Giers läßt um die Ecke 50 Wörter, von dem Philosophen Max Bense bestechend prononciert auf Band gesprochen, per Zufallsgenerator immer wieder neu zusammensetzen: Kaffeekanne! Bodenlosigkeit! Sexualgenuß! Die Maschine als Auslöser von Sinnvermutung und Produzent von Pseudoinhalten. Wo Giers für die Anschaulichkeit logischer Operationen die Mittel moderner Computertechnologie einsetzt, konstruiert CFN Werner seine „Großrechenanlage“ aus Versatzstücken von Stellwerken und Telefonzentralen. Ebenso wie sein Modell „Vorwärts“ – ein insektoides Gebilde, das auf Knopfdruck lustlos vor sich hin scharrt – zielt diese erzwungen wirkende Archaisierung der Maschine risikolos auf ihre Entzauberung. Den gleichen Gestus einer vordergründigen Maschinenkritik bemüht die „Hinrichtungsmaschine nach Kafka“ des Ausstellungsmachers Harald Szeemann. Da jubelt der Technikhasser.

Mit dem Maschinenmotiv spielt auch ein 25minütiges Video von Fischli/Weiss, doch ungleich klüger, komplexer und vor allem: vergnüglicher. „Der Lauf der Dinge“ als Kettenreaktion, einmal quer durch die Gesetze von Physik, Chemie, Mechanik und Kinematik. Angelegt wie eine gigantische Produktionsstraße, beweisen Alltagsgegenstände ihr Talent zum Maschinenteil in einem Prozeß, dessen Aufgabe darin besteht, sich selbst in Gang zu halten. Ein in sich gedrehtes Seil entdröselt sich langsam; der daran hängende Müllsack streift einen Autoreifen, der sich träge in Bewegung setzt und das labile Gleichgewicht einer Wippe stört; sie kippt, die darauf festgezurrte Wasserflasche entleert ihren Inhalt zielgenau in einen bereitstehenden Becher; dieser läuft in einen Luftballon über, der, prall gefüllt, über eine Schiene schnurrt und endlich eine Gießkanne umstößt. Und so weiter, und so fort. In abenteuerlichen Konstruktionen treiben Kerzen, Rollschuhe, Würfelzucker, Bälle, Korken, Lunten, Säuren, Feuer und Wasserkessel ihr rasantes Spiel. Allein dieses Video lohnt den Besuch.

Letzte Station im Obergeschoß ist die Installation „100 Jahre/100 Spinde, Geschichte privat“ von Helmut Bien, Ulrich Giersch und Jesco von Puttkamer. Dem Blick in den Spind präsentiert sich ein Spoerrisches musée sentimentale der Arbeiterbewegung und Gewerkschaftsgeschichte. In den Schrumpfräumen des Privaten aus Eisenblech passieren Revue: das „Kaiserpanorama“, Weimarer Republik, Faschismus und Aufbaujahre. Am 1.Mai bleibt der Schrank geschlossen, und die Spindgruppe aus drei Jahren Wiedervereinigung rappelt ganz entsetzlich.

Dieses leicht überdimensionierte Environment bildet die Überleitung ins Untergeschoß, wo über Menschenmaschinen und Maschinenmenschen erstaunlich sprunghaft nachgedacht wird. Der Mensch im Zentrum? Hier unten ist nicht viel zu spüren davon, die lieblose Präsentation verbindet sich vorzüglich mit der Schäbigkeit des Ausstellungsorts zu beklagenswerter Ödnis. Die Maschine Mensch ist das unausgesprochene Ziel der Herrschaft der Mechanisierung über Geist und Körper. Bewegungsstudien, Ergonomie, Psychotests und Körpervermessungen sind die Mittel, die selbst unter Vorgabe der Humanisierung des Arbeitsplatzes die Rationalisierung von Arbeitsvorgängen, den Akkord, im Blick haben. Eadward Muybridges in jeder irgendwie kulturhistorischen Ausstellung omnipräsente Fotosequenz der zwei hämmernden Männer, medizinische Zeichnungen, die Gläserne Frau aus Dresden und psychotechnische Geräte sind in diesem Zusammenhang eine äußerst mühsame und mittlerweile beliebige Illustration.

Raffael Rheinsberg hat Schrauben gesammelt und sie in eine Spanplatte gedreht. „Wir sind überall auf der Erde zu Haus“, eine etwas kitschige, aber doch witzige Variation der Themen One World und Der Mensch im Getriebe der Welt. Verwirrend ist seine zweite Arbeit, improvisierte Hanteln und Gewichte aus roh verschweißten Getriebeteilen und Gerüstzargen: „Potsdamer Trainingsgeräte, gefunden in einer sowjetischen Kaserne“. Unwillkürlich unterstellt man dem notorischen Sammler Rheinsberg Manipulation an diesen Objekten. Dabei ist die „Authentizität“ des Funds gar nicht wichtig. Denn hier funktioniert endlich, was die Archaiker im Obergeschoß nur versuchen. Es ist das gleiche Mißverstehen am Werk, das einen auch die ausgestellten Turngeräte der Jahrhundertwende für Schustermaschinen halten läßt: Ärmlichkeit und Zweckentfremdung des Materials liegen derart jenseits unseres High- Tech-Bewußtseins, daß wir uns die Funktion der Apparate nicht mehr vorstellen können.

Auch die Maschine Mensch landet schließlich bei sich selbst: bei ihrer Körperlichkeit. Beim Bodybuilding stählt sie sich mittels Maschinen zur Muskelmaschine, doch nicht mehr zur Steigerung professioneller Leistungsfähigkeit, sondern selbstreferentiell corps pour corps. Marie-Jo Lafontaines „Les Larmes d'acier“, eine Arbeit für die documenta 1987, verdoppelt die (neue) Ikone Körper in einem angemessenen Rahmen: die Videoskulptur als gothische Kathedrale. Lafontaines Arbeit mag die ästhetische Vorlage für die amerikanische Lee-Jeans-Reklame geliefert haben – Sie erinnern sich: gutkonstruierte junge Männer hämmern auf überdimensionale Nieten ein. Umgekehrt inspirierte die gegenwärtige Benetton-Werbung, die sich internationaler Katastrophenszenarien bedient, eine Arbeit von Rob Moonen, Olaf Arndt und David Artichouk: „Alle Räder müssen rollen.“ Eine „Kriegsmaschine“ aus Lagerregalen, Zinksärgen und bunten Tüchern, die auf die Verstrickung von Industrie, Business und Konsum anspielt. Der Rundgang endet beim Maschinenmenschen, dem Traumbild der mechanischen Simulation menschlicher Fähigkeiten. Ritterrüstung, androide Musikautomaten, Roboter bis hin zum Cyber- Punk, der die Maschine verinnerlicht, die seine Welt als virtuelle Wirklichkeit erzeugt: Sie alle wehen in der Ausstellung nur noch als grobgerasterte Schemen auf langen, bleichen Fahnen an der Wand.

Wer jetzt noch kann, schaut sich die dreiviertelstündige Multimedia-Schau „Visionen der Moderne“ an. Und wer – nach historischem Rückblick auf die Arbeiterbewegung und Analyse der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung der sozialen Probleme durch die Wiedervereinigung – bis zum dritten Teil durchhält, erfährt Erstaunliches. Hier diskutieren nämlich Edzard Reuter, Franz Steinkühler und Professor Müller die Zukunft der Arbeitswelt. Individualismus, so Franz Steinkühler, sei in Zukunft nur als Leben in der Gemeinschaft denkbar. Ob mit diesem Allgemeinplatz, der souverän ca. 5.000 Jahre Sozialphilosophie zusammenfaßt, nun auch die „Dekonstruktion“ des gewerkschaftlichen Mythos Solidarität eingeläutet werden kann, darf bezweifelt werden. Vielleicht steht diese erst zum 150. Geburtstag der Gewerkschaft an. Wir sind mäßig gespannt.

Die Ausstellung „In der Tradition der Moderne. 100 Jahre Metallgewerkschaften“ ist noch bis 14. Februar im Ausstellungszentrum am Fernsehturm, Alexanderplatz, zu sehen. Öffnungszeiten: Di.-Do., So. 11-19 Uhr, Fr. und Sa. 11-20 Uhr. Der Katalog kostet 25 Mark.