Wo die Jahre doppelt gezählt werden

„Söhne der Nacht“, ein trauriger Straßenroman von Richard Price  ■ Von Günther Grosser

Man vergleiche einmal die Häufigkeit öffentlicher Telefone auf den Straßen europäischer und amerikanischer Großstädte. Während man sich in Europa immer noch auf die sperrigen und teuren Telefonhäuschen verläßt, finden sich in den USA die Fernsprecher längst alle paar hundert Meter an Häuserwänden oder Telefonmasten, ein Zugeständnis an die Tatsache, daß das Leben Amerikas sich in weit größerem Maße auf den Straßen abspielt. Entsprechend hat die Straße als Fundus und literarischer Ort amerikanischen Schriftstellern immer schon mehr zu bieten gehabt als den europäischen und ganz besonders den deutschen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mit Vorliebe in muffigen Räumen aufhielten, und wenn es ins Freie ging, dann eher an windumtoste Küsten, luftige Schweizer Berghänge oder reizvoll dünstende venezianische Kanäle. Nicht so Henry Miller, Larry McMurtry oder Don Delillo, um nur ein paar zu nennen, die sich regelmäßig die Treppe hinunter auf die Straße trauten, um dort zusammen mit ihren ewig unterschätzten Kollegen, den Krimi- Autoren, ihr Material zu suchen.

Seit zwanzig Jahren treibt sich da unten auch ein gewisser Richard Price herum, ohne sich jedoch dezidiert bei den Kriminalautoren eingereiht zu haben, obwohl er über kaum etwas anderes schreibt als kriminelle Figuren. Er nimmt sie, wie sie kommen, und dort, wo er aufgewachsen ist, kommmen sie gehäuft: in der Bronx. So wimmeln seine Straßenromane von Kleinkriminellen jeder Couleur, und als die New York Times ihm vor einigen Monaten in diesem Zusammenhang eine literarische Klassifizierung seiner Arbeiten abrang, überraschte er mit dem guten alten „Sozialrealismus“, einem Begriff, den in der deutschen Literatur, trotz einer gerade entbrannten neuen Realismusdiskussion, derzeit niemand auch nur mit der Kneifzange anfassen würde.

Wie krude ein solcher Realismus sein kann, zeigte Price bereits 1974, als er seinen ersten Roman „The Wanderers“ (deutsch: „Scharfe Zeiten“) vorlegte, ein dreckiges Buch über Jugendbanden, das ihm prompt ersten Ruhm und den Ruf eines literarischen Schmutzfinken einbrachte. Price blieb konsequent bei der Straße, schrieb drei weitere Romane und nebenher Drehbücher in Hollywood, unter anderem für Martin Scorsese („The Color of Money“). Sein neuestes Buch trägt den Titel „Clockers“ („Söhne der Nacht“), ein trauriger Roman über das Elend der amerikanischen Sozialsiedlungen.

Clockers sind jugendliche Drogenhändler, 13-, 14-, 15jährige Jungs, die stundenweise auf den Parkbänken der Mietskasernen herumhängen und ampullenweise Stoff verkaufen. Abnehmer: die Süchtigen der näheren und ferneren Umgebung; Zulieferer: die nächsthöhere Ebene der Händlerpyramide; Arbeitszeit: drei, vier Stunden pro Tag; Verdienst: überdurchschnittlich; Lebenserwartung: ein paar Jahre. Sie heißen Peanut, The Word, Strike oder Buddha Hat, Taufnamen spielen nur noch bei Verhaftungen oder vor dem Bewährungshelfer eine Rolle. Sie tragen funkelnagelneue Basketballschuhe, schrille Jogginganzüge mit Kapuzen und haufenweise Goldketten. Die Zeit: heute; der Ort: Dempsy, ein fiktives Partikel des großen urbanen Komplexes um Jersey City und Newark auf der New- Jersey-Seite des East River; in Sichtweite: Manhattan. Einmal pro Abend tauchen die „Furien“ auf, eine Streifenwagenladung Polizei, scheuchen alle durch die Gegend – und kassieren ihren Anteil ab. Ansonsten geht alles seinen von Armut, Drogen und Hoffnungslosigkeit geregelten Gang.

Den roten Faden des Buches bildet eine dubiose Mordgeschichte im Clockers-Milieu, die sowohl dem Kripo-Beamten Rocco Klein als auch dem zu Unrecht verdächtigten Dealer Strike mehr zu schaffen macht, als ihnen lieb ist. Strike beaufsichtigt eine Crew Clockers und ist mit 19 schon so alt, daß ihn ein Magengeschwür in Tagesabständen regelrecht von der Parkbank wirft; Klein sehnt nichts so sehr herbei wie seine Pensionierung, obwohl er grade mal auf Mitte 40 zugeht. Beide schleichen sie in völliger Fehleinschätzung des Falles ihr Gebiet ab und organisieren die Arbeit. Es ist Sommer, Mordopfer Nummer 42 des Jahres – „nicht gerade eine Sturmflut an Blut“ – liegt durchsiebt vor einem Schnellimbiß, und der John F. Kennedy-Boulevard brodelt, eine jener Ghettostraßen zwischen öden Wohnblocks, auf denen die sozialen Zusammenhänge in Fetzen gerissen und die Jahre doppelt gezählt werden.

Daß Richard Price eine Straße zum eigentlichen Protagonisten seines Romans gemacht hat, hebt „Söhne der Nacht“ weit über jenen Thriller hinaus, den man hinter der Aufmachung des Buches vermuten würde. Die Straße der neunziger Jahre hat allerdings nur noch sehr wenig mit der eines John Steinbeck oder Sinclair Lewis zu tun; die Straße ist gefährlicher geworden, dreckig und unberechenbar. Hier werden vor Kälte zitternde Gefühle aus den engen Wohnungen heruntergeschleppt, bloß um dort unten im schlammigen Sumpf der Hoffnungslosigkeit zu verlöschen. Immer wieder läßt Richard Price seine Figuren wie orientierungslose Fliegen gegen die unsichtbaren Scheiben dieser abgeschlossenen Welt taumeln; alle Ausbruchsversuche enden an den Grenzen des Ghettos: kein Job – kein Geld. Lediglich an zwei winzigen Stellen scheint der Kreis unterbrochen; man wird berühmt oder kriminell, Rap-Star, Basketballspieler oder Drogenhändler.

Richard Price liefert in „Söhne der Nacht“ Bilder aus einem jahrzehntealten Kampfgebiet (dessen westlicher Ausläufer, South Central Los Angeles, kurz nach Erscheinen des Buches in einem blutigen Aufstand explodierte) die Zustandsbeschreibung einer verlorenen Schlacht, die in den Armutsvierteln der Metropolen kämpft, von den Politikern, Yuppies und Medien über zwei Jahrzehnte mit scheinheiliger Neugier beobachtet und schließlich achselzuckend verlorengegeben wurde. Der angebliche Drogenkrieg der Reagan- Bush-Jahre war und ist ein Krieg der Mütter in den Ghettos gegen die Verlockungen des schnellen Geldes, dem ihre Familien tagtäglich ausgesetzt sind, und diese Mütter sind die einzigen, denen Price in seinem Roman noch etwas zutraut. Der versprochenen sozialen Wende nach dem Wahlsieg Bill Clintons werden vor allem sie mit großen Erwartungen entgegensehen. Der große Erfolg des Romans in den USA mag darauf hindeuten, daß man sie nicht ganz aus dem Auge verloren hat. Was übrigens die erwähnten Telefone angeht, so können Sie sich, sollten Sie einmal in einem drogenverseuchten Ghetto vorbeikommen, getrost darauf verlassen, daß sie funktionieren. Die Clockers sind auf die Dinger angewiesen und behalten sie im Auge. Sie bestellen damit ihren Nachschub.

Richard Price: „Söhne der Nacht“. Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg. Bertelsmann Verlag 1992, 601 Seiten, 48Mark.