Aus der Sachertorte gekratzt

■ Ruth Berghaus' „Rosenkavalier“, in Frankfurt auf die andere Art inszeniert

Richard Strauss hat in seinen Erinnerungen geseufzt, sein „Rosenkavalier“ solle doch bitteschön als Wiener Komödie gespielt werden und nicht als Berliner Posse. Dies betrachteten die Opernleute fortan als ernst zu nehmende Drohung und gossen sogenannten „Wiener Schmäh“ über das Stück. Zuckersüß, Schicht um Schicht, alle Poren verklebt – Atemnot! Wie auf der Bühne, so meist auch im Orchestergraben.

Ruth Berghaus und Spiros Argiris haben in Frankfurt am Main den Spachtel angesetzt und schwer geschuftet. Ein bißchen Komödie ging bei dieser Roßkur zwar verloren, aber der Patient holt wieder Luft. Die pfeift nur so durch die Partitur, glasklar, rasch und gelegentlich äußerst scharf. Manchmal beleiht sie Rossinis Parlando-Hexereien, und momentweise kristallisiert sich der Klang förmlich: Wenn die Feldmarschallin im Spiegel sieht, wie die Zeit verrinnt; wenn die silberne Rose die Zeit anhält und den Raum sich drehen läßt.

Nie orgelte ein Walzer teuflischer durch ein Orchester als zu des Ochs auf Lerchenau Kehraus im Beisel. Spiros Argiris und das „Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchester“ badeten in Ovationen.

Auch war wieder erkennbar, daß das Sein in Wien traditionsgemäß die dunkle Bosheit kennt, daß das Vergehen nur unter einer dünnen Sachertortenschicht verborgen ist und daß Hugo von Hofmannsthals Stück davon handelt. Lautlos wie eine Sanduhr fließt die Zeit. Der Ochs war gestern ein Cherubin, und Sophie wird morgen eine Tante sein. Die Marschallin ahnt das, und Ruth Berghaus läßt es sie spielen. Die hinterbänklerischen Pflicht-Buhs für die Regisseurin beginnen zu langweilen.

Sie ist Palucca-Schülerin, vom deutschen Ausdruckstanz beeinflußt, und deshalb spricht sie eine zuweilen drastische Körpersprache. Psychologisches Einfühlungsvermögen macht ihre Figuren menschlich bis hausfrauenpusselig – wie ausgerechnet die hohe Dame Feldmarschallin, Fürstin Werdenberg, wenn sie nach kritischer Untersuchung von Kragen und Manschetten eine getragene Bluse noch mals ins Wäschefach legt.

Sozialer Verstand schärft Ruth Berghaus' Blick für die ungemütlicheren Belange des Zusammenlebens. Alle ihre sezierenden Künste läßt sie auf die zerwühlten Seidenkissen im liebgewordenen Rokoko-Alkoven der Fürstin los, auf den gichtigen Heubodensex des Ochs, auf Faninals kunstmarmornen Neureichtum, die herzige junge Liebe zwischen dem siebzehnjährigem Traumknaben mit Mozartzopf und der porzellanenen Klosterschülerin, auf den Operettenkarnevalsmummenschanz im Séparée und auf eine alternde reiche Melancholikerin.

Mit der Ouvertüre fängt schon alles unheilverkündend an: Wo andernorts voyeuristisch in die Laken geguckt wird, bleibt der Vorhang geschlossen. Er öffnet sich vor einer Architektur zwischen Rokoko, Klimt und Schlaferlebnisbereich der höheren Preisklasse, die sich bald bevölkert. Ein sich seltsam auf Knien hereinschraubender Tänzer mit schwarzer Maske bringt das Kaffeetablett statt des in der Besetzungsliste angekündigten üblichen Sarotti-Mohren. Der eiskalte und brutale Grobian in hellem Sommeranzug ersetzt den wohlvertrauten Polter-Buffo aus dem Lande Lerchenau.

Daniel Lewis Williams trumpft mit knallhartem, dabei leicht geführtem Baß auf, daß einem angst und bange werden mochte. Dazwischen schweben die Zierfische des Lever: als Würfel und Kreise kostümierte Tänzer, adelige Waisen, Notare und Friseure. Der italieniche Tenor schmilzt ein seltsames Leben in die Pop-Art-Puppenstube. Der junge Mann, Octavian, genannt Quinquin, und die Fürstin Marie Theres hatten gewiß eine gute Nacht. Daß sie glücklich sind, mag man so recht nicht glauben. Irgendwann tritt er sie ein wenig mit Füßen, irgendwann hält sie ihm ein wenig die Pistole vor die Brust. Als „Mariandl“ stülpt er sich eine komische Mütze auf den Kopf, ein schlauchförmiger Rock zwingt den stolzen Grafen Rofrano zum lächerlich-verletzt-wehrlosen Weibchen.

Skurrile Bilderlust lebt Berghaus im ersten Aufzug aus, den Sinn für seltsamen Humor im zweiten. Nach der Rosenüberreichung – ein winziges Schwanken der Bühnenarchitektur macht die Zuschauer im Saal so trunken, wie es das Pärchen auf der Bühne ist – poltert der Ochs herein. Er grabscht sein Bräutchen wie das Personal daheim auf dem Heuboden, und schon schnappen die Messer. Die Attacke endet auf dem unvermeidlichsten Möbel aller avancierten Opernbühnen: dem Krankenhausbett. Alle vor uneingelöster Geld-, Sex- und/ oder Titel-Gier Halbtoten rollen auf dieser Gondel dahin, die Krankenschwestern schweben, ihr Walzer zischt durch Faninals Bibliothek. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.

Dritter Aufzug: Verwandlung zur Hoffnungslosigkeit – nach dem Ernst fragt hier keiner mehr. Aus den Eingeweiden von Wien, aus dem eisiggrauen Keller eines Schlachthofes führt ein Tunnel direkt ins Extrazimmer vom düsteren Beisel. Schwarzer Mob, der Abhub der Gosse, ist emporgestiegen und erwartet die fassungslose feine Gesellschaft. Panik scheint nahe, bis ein silberglänzendes Frauenterzett dem infernalischen Gespensterstundenwalzer entsteigt.

Wie schön bei der Premiere in diesem erholsamen, erfrischend kratzigen „Rosenkavalier“ gesungen wurde, ist gar nicht zu beschreiben. Ildiko Komlosi, schlank und rank, hat genau den richtigen vollen Mezzo für den Octavian, und Pia-Marie Nilsson als Sophie ist die blond-silbrige Zerbrechlichkeit selbst, zart an Stimme und Gestalt. Die wunderbare Marschallin der Deborah Polaski war eine eher desillusionierte Dame der Gesellschaft, immer mal wieder mit ihrer kleinen Pistole beschäftigt. Die Partie fordert sie nicht bis an die Grenze ihrer stimmlichen Möglichkeiten, sondern läßt Raum für vokale Steigerung und Gestaltung.

Drei Frauenstimmen singen berückend schön, aber die drei Gestalten haben nichts mehr miteinander zu schaffen. Liebesräusche sind verflogen, die lebenskluge Marschallin sieht mal wieder eine Periode der Tristesse vor sich, die Teenager öden einander bereits an. Wenn es in Richard Strauss' Schlußduett zwischen Sophie und Octavian klingt wie bei Hänsel und Gretel, putzt sie an ihren Fingernägeln herum, und er spielt mit der kleinen, feinen Pistole: der Abschiedsgabe seiner großen Geliebten. Irene Tüngler

Noch heute, am 24. und am 30. Januar in der Frankfurter Oper zu sehen.