Ewig traurig halbdagegen

Chaim Noll über feige Differenziertheit und falsches Verzeihen in Deutschland. Ein Interview  ■ von Marko Martin

Chaim Noll, geboren 1954, entstammt einer jüdischen Familie und wuchs, als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll, im Milieu der DDR- Nomenklatura auf. 1980 Kriegsdienstverweigerung, daraufhin Einweisung in psychiatrische Kliniken. Ausreise nach Westberlin 1984. Lebt als freier Schriftsteller in Berlin und Rom. Fünf Buchveröffentlichungen, unter anderem: „Nachtgedanken über Deutschland“ (Rowohlt 1992).

Marko Martin: 1984 haben Sie mit Ihrer Familie die DDR verlassen. Wenn ich mir Ihre Bücher anschaue, so fällt auf, daß Sie erst gar nicht mit Marx- und Bloch-Zitaten den okkupierten Sozialismusbegriff der stalinistischen Bonzen zu entlarven suchen, sondern direkt auf die deutsche Untertanenmentalität zu sprechen kommen. Wie fanden Sie zu dieser Haltung, die in ihrer Präzision und Schärfe auch in der Literatur anderer emigrierter Autoren in dieser Ausprägung kaum vorhanden ist?

Chaim Noll: Einfach durch meine Erfahrung in diesem Land, das diese Untertanenseelen in erschreckendem Ausmaß unverändert züchtet. Bei Heinrich Mann kann man lesen: „Das Ideal des deutschen Mannes ist das Aufgehen in einem großen Ganzen.“ Im Faschismus hat das schon einmal funktioniert, in der DDR wurde es fortgesetzt: das Mitläufertum als individuelles und gesellschaftliches Ideal, die massenhafte Unterwerfung der Persönlichkeit unter die wechselnden Über-Ichs der Geschichte. Da ich mich aber schon seit meiner Kindheit als Überlebender einer Familie fühle, die eigentlich ausgemerzt werden sollte, war ich glücklicherweise immun gegen diese Vorstellungen. Meine beiden Großmütter überlebten KZ und Verfolgung und waren sehr stolz darauf, in diesem Land dennoch Enkel zu haben. Ich habe begriffen, daß ich für diese zwei alten Frauen etwas sehr Erfreuliches bin. Das war vielleicht prägend: Ich habe nie das Gefühl gehabt, daß ich, um ich selbst zu sein, mich irgendwo einordnen müsse; ich wußte, daß ich auch so etwas wert bin.

Bei vielen Juden speiste sich die mehr oder minder kritische Anhänglichkeit an die kommunistische Ideologie, auch an die Sowjetunion oder die DDR, aus der Tatsache, daß es die Rote Armee war, die sie aus Hitlers Vernichtungslagern befreite...

Meine Großmutter wurde von der Roten Armee aus dem KZ befreit, allerdings hat sie kaum darüber reflektiert; sie war froh, überlebt zu haben. Ob sie das nun den Amerikanern oder den Russen zu verdanken hatte, war nebensächlich. Beide Großmütter waren bürgerlich und hatten zu Ideologien kein Verhältnis. Zu Jüdinnen sind sie ja auch erst durch Hitlers Rassengesetze gemacht worden; die Fragen jüdischer, intellektueller oder sozialistischer Identität spielten keine Rolle. Mein Vater wurde zwar Kommunist und Staatsschriftsteller in der DDR, aber das war eher eine „Entgleisung“ in unserer Familie.

Sie haben den Schick des urbanen Lebens im Westen immer wieder literarisch mit dem Kasernenhofmief der DDR konfrontiert. Andererseits übten Sie auch immer wieder Kulturkritik am Westen. Wie geht das zusammen, kommt diese Kritik aus einem wertkonservativen Impuls heraus?

Auch im Westen sind Tendenzen zur Tilgung des Individuellen zu spüren. Ob die Kritik daran nun wertkonservativ oder alternativ zu nennen ist, weiß ich nicht, vielleicht ist das auch gar nicht wichtig. Es ist einfach ein Gegenprogramm zur versuchten Gleichschaltung.

Es geht dabei nicht primär um Ideologien, denen man sich unterwerfen muß, sondern um Zwänge, die weitaus subtiler und schwerer zu durchschauen sind. Denken Sie an den Kreislauf aus Konsumption und der Erzeugung neuer künstlicher Bedürfnisse. Michael von Poser beschrieb das einmal so: „Man steht morgens auf, übt verwerfliche Tätigkeiten aus, um dann kaufen zu können, was die Welt bietet.“ Das ist natürlich kein Lebensprogramm.

In Ihrem Buch „Nachtgedanken über Deutschland“ beschreiben Sie die ideologischen Kämpfe in Deutschland als nationale Fehde, die im Grunde genommen nur zwischen artverwandten Mentalitäten ausgetragen wurde und wird. Ein Einwand: Wenn ein Rechter richtig rechts ist, bedeutet das in der Konsequenz, daß er Minderheiten herstellt und zu vernichten bestrebt ist. Wenn ein Linker links im Sinne von machtkritisch, solidarisch und tolerant ist, hört er auf den Namen Heine oder Tucholsky und wäre dann sowohl für das braune wie für das rote System ein Feind, den es zu eliminieren gilt. Ich will hier kein Schutzreservat für das Wörtchen „links“, aber angesichts der Tatsache, daß die abgehalfterten Exponenten der DDR und ihre westdeutschen Sympathisanten dieses Wort für sich in Beschlag nehmen, halte ich diesen semantischen Versuch der Notwehr durchaus für legitim.

Sie belegen links mit der Bezeichnung kritisch-intellektuell; okay. Aber Tatsache ist doch, daß gerade Linke massenhaft und oft unbeirrt diese Haltung verraten haben. Mir fällt die Unterscheidung zwischen einem verquasten Edelnazi und Herrn Ströbele äußerst schwer, der während des Golfkrieges kundtat, lieber eine Million toter Juden in Kauf zu nehmen, als den Weltfrieden gefährdet zu sehen. Da schließt sich der Kreis. Die ursprünglich als Hinterfragung der bürgerlichen Gesellschaft entstandene Idee wurde in diesem Jahrhundert zu sehr pervertiert, als daß sie noch ein ungebrochenes Selbstverständnis für sich in Anspruch nehmen könnte.

Ich hatte weniger Rechtfertigungsversuche für den Terror beziehungsweise – in diesem Fall – Krieg im Blick, als vielmehr die Ideen eines Mannes wie Manes Sperber, der seine linke Überzeugung als ein Gegen-den-Strom- Schwimmen verstand, der das Absolute angriff und nicht anstrebte.

Wenn sich das durchgesetzt hätte, wäre die Linke vielleicht ein weniger selbstgerechtes Kollektiv geworden. Gerade Sperbers Haltung läßt sich nicht als Gruppenhaltung durchziehen. Die Linke krankt eigentlich schon daran, daß sie sich als Formation verstand. Und wenn eine Formation gegen den Strom schwimmt, dann ist sie wiederum ein Strom. Ist dann der, der innerhalb dieser Formation gegen den Strom schwimmt, rechts? Natürlich nicht, aber die Linke hat sich als intolerant und unfähig erwiesen, solche Leute zu ertragen. Sie war dann auch nur eine Gruppe innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, sehr leicht einzuordnen und sehr leicht zu instrumentalisieren. Da haben wir wieder Heinrich Manns „großes Ganzes“,in dem der Einzelne nicht zählt.

Ich denke an das ewig traurige Halbdagegensein, das sich links nennt und das zum Beispiel Christa Wolf in der DDR vertreten hat mit ihrer intellektuell verklärten Sehnsucht nach der Tristesse. Das steht diametral dem gegenüber, was Sie unter links verstehen, hat aber eine viel größere andächtige Jüngerschar. Es ist einfach die alte Angst vor dem Individuellen, das sich hier ein Ventil sucht, eine als Differenziertheit getarnte Feigheit. Darauf sind sie heute noch stolz. Sie haben einen Pseudo-Widerstand praktiziert, den man nach 1945 „innere Emigration“ nannte. Die Bilder gleichen sich: Heute wie damals wird den Weggegangenen vorgeworfen, sie hätten das Land, die Idee verraten, sie wären Maximalisten ohne Sinn für Zwischentöne. Im Grunde kommt das aus der Mottenkiste: das Ideal der Stammesgemeinschaft... Aber damit begünstigen sie das Verbrechen, und sie wissen das auch.

In Ihrem Buchkapitel „Volk ohne Sprache“ konstatieren Sie einen überambitionierten Intellektualismus, der mit antiintellektuellem Massenressentiment ebenso in Verbindung steht wie eine elitäre Literatursprache mit dem sprachlosen gesellschaftlichen Umfeld, in dem sie ungeliebt und nahezu wirkungslos verpufft.

Eine feste Verwurzelung des Literaten in der Gesellschaft, wie man sie aus Rußland oder Frankreich kennt, hat es in Deutschland nie gegeben. Der Schreiber war immer das suspekte Element und ist es geblieben: weder vorauseilende Staatstreue noch Flucht in die Innerlichkeit konnten dem abhelfen. Fatal, daß Schriftsteller aus der Not der Ausgrenzung eine Tugend machten. Damit den Spalt zur übrigen Gesellschaft vertieften. Keine Literatur trieft so sehr vor stillem Beleidigtsein und Weltscheu wie die deutsche.

Kommen wir zu einer anderen Spaltung. Gegenwärtig brennen in Deutschland Asylbewerberheime, werden Ausländer gejagt. Ich fand bei Ihnen eine interessante These: In dem Maße wie der Stasi-Scherge und Denunziant zum honetten Mitbürger avanciert, wird der Ausländer zum (O-Ton Rostock) „Vieh“. Läßt sich so einfach eine Kausalkette herstellen?

Eine Nation so voller innerer Unsicherheit und uneingestandenem Selbsthaß wie die deutsche muß sich Sündenböcke suchen, an denen sie sich abreagieren kann. Aber auch andere Nationen befinden sich in Krisen, können sozialen Sprengstoff nicht entschärfen und suchen nach Schuldigen. Es gibt aber etwas ganz Typisches für Deutschland 1992: der Zusammenhang zwischen unbewältigter Stasi-Vergangenheit und Rechtsradikalismus, der sich darin zeigt, daß eine Atmosphäre des Verzeihens von Verbrechen um sich greift. Staatlich organisierte Demütigung und Infamie ist plötzlich nur noch ein Fall von menschlicher Schwäche, über die man angeblich nicht hart urteilen dürfe. Das war vor und nach 1945 so, vor und nach 1989 – eine ungebrochene Kontinuität des Versagens. Man verzeiht in Deutschland den Tätern, ohne sie zuvor zur Verantwortung gezogen zu haben. Wenn man aber die eine Art von Verbrechen toleriert, entsteht natürlich ein idealer Nährboden für das Verbrechen schlechthin.