Der Riese ohne Stimme

Der politische Einfluß der TürkInnen in Deutschland steht in keinem Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Macht. Türkische Unternehmer diskutieren deshalb über einen Steuerboykott  ■ Von Kemal Kurt

In Deutschland hat sich im letzten Jahrzehnt fast unbemerkt ein Wandel vollzogen: die wirtschaftliche Struktur der türkischen Bevölkerung hat sich radikal geändert. Bis vor zehn Jahren waren es fast ausschließlich Industriearbeiter und niedrige Angestellte im Dienstleistungssektor, die, von Ärzten aussortiert, aus anatolischen Dörfern in die hochtechnisierten Fabrikhallen katapultiert worden waren. Wie auf dem Pferdemarkt hatte man ihre Zähne geprüft und pure Muskelkraft gekauft, geistige Fähigkeiten waren nicht gefragt. Inzwischen aber sind viele „Gastarbeiter“ zu Selbständigen geworden und haben sich selbst einen Arbeitsplatz geschaffen – und dazu noch für Tausende Deutsche. „Bis 1984 wollten siebenundachtzig Prozent der Türken zurück und schickten jährlich offiziell drei, inoffiziell bis zu sechs Milliarden Dollar in ihre Heimat. Die BRD-Regierung förderte die Rückkehrbereitschaft mit Prämien“, erzählt Ahmet Güler, der Vorsitzende des Türkisch-Deutschen Unternehmervereins in Niedersachsen und Bremen (siehe Porträt). „Leider haben sich diese Investitionen nicht ausgezahlt, viele haben ihr Geld verloren. Die Rückkehrförderung war ein Flop, nur acht Prozent konnten sich in der Türkei etablieren.“ Das hat sich herumgesprochen. Seitdem investieren die Türken ihr Geld in Deutschland. Sie gründen Geschäfte und Betriebe, kaufen Eigentumswohnungen oder legen ihre Ersparnisse bei deutschen Banken an. Die Überweisungen in die Türkei gingen 1991 auf 1,9 Milliarden Dollar zurück. Das hiesige Sparvolumen schätzt man auf zwischen hundertzwanzig bis hundertsiebzig Milliarden Mark. Von den vierhunderttausend türkischen Haushalten sind inzwischen fünfunddreißigtausend Eigenheimbesitzer, dreiundachtzig Prozent aller Türken wollen hierbleiben. Das ist die Entwicklung der letzten fünf Jahre. Jedes Jahr werden von den ehemaligen Gastarbeitern tausendzweihundert neue Betriebe eröffnet. Nur noch fünfunddreißig Prozent der erwerbstätigen Türken sind einfache Fabrikarbeiter geblieben. Die Entwicklung verläuft rasant, die Döner-Zeiten sind längst passé. Dazu Güler: „Es fing alles ganz bescheiden in der Lebensmittelbranche an. Heute sind türkische Unternehmer vom Tourismus bis zum Transport, von Textilien bis zum Bausektor und dem Börsengeschäft in hundertfünfzehn Branchen tätig. Sie beschäftigen viele deutsche Arbeitnehmer. Das ist nur der Anfang. Von dem Riesenkapital, das noch schlummert, den Ersparnissen von bis zu hundertsiebzig Milliarden Mark, werden zur Zeit jährlich nur fünf bis sechs Prozent aktiviert. Wenn wir diesen Anteil auf dreißig bis vierzig Prozent erhöhen, kann man von einem Wirtschaftsriesen sprechen. Heute investieren türkische Unternehmer sechsmal soviel in Deutschland wie deutsche Unternehmer in der Türkei. Allein die Firma Tekfen beschäftigt viertausend Deutsche in Halle.“

Die Gründerzeit ist vorbei, eine Phase der Konsolidierung und Institutionalisierung hat begonnen. Der Trend geht zu Großfirmen und Zusammenschlüssen. Der Türkisch-Deutsche Unternehmerverein in Niedersachsen und Bremen, der erste seiner Art, wurde erst vor zwei Jahren für Aus- und Weiterbildungszwecke, Beratung, Koordinierung und zum gegenseitigen Kennenlernen gegründet.

„Am Anfang waren wir selbst überrascht, was es alles gab“, lacht Ahmet. „Es war spannend, das herauszubekommen. Die Betriebe arbeiteten isoliert, kämpften mit Existenzsorgen und hatten keine Plattform. Mittlerweile gibt es in sechzehn Städten ähnliche Vereine, kürzlich haben wir einen bundesweiten Dachverband gegründet. Zu unseren Mitgliedern zählen deutsche Unternehmer.“

Einfach war es nicht. Ähnlich wie die Juden in der Diaspora mußten Ahmet und seinesgleichen hart arbeiten und auf den Stabilitätsfaktor Großfamilie bauen, um sich behaupten zu können – und zwischen Welten vermitteln. Die Vermittlerrolle wurde nur durch die Kombination Morgenland als Herkunft und Abendland als Standort möglich. Auf der einen Seite waren die deutschen Kunden, die pünktlich beliefert werden wollten, auf der anderen Seite die türkischen Hersteller, die da nicht so penibel waren. Zu Anfang mußten Ahmet und andere Pioniere zwischen zwei Extremen lavieren. Auch heute tun sie das, wenn sie die Geschäftsinteressen ihrer Partner in Indien, Pakistan und Korea mit denen in Dänemark und Kanada auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Das schafft kein Deutscher, da muß man in beiden Mentalitäten zu Hause sein.

„Wir kurbeln die deutsche Wirtschaft an, zahlen Steuern, Solidaritätsbeiträge und Sozialabgaben, und trotzdem werden wir gesondert behandelt“, sagt Ahmet energisch, und ich erkenne darin den Studenten von den Teach-ins an der Hacettepe-Universität. „Unsere wirtschaftliche Potenz findet keine Entsprechung in der Politik, die Türken leben im politischen und sozialen Abseits. Wir haben keine Stimmen zu vergeben, daher wird unsere Stimme von niemandem gehört. Unser Verein sieht sich angehalten, verstärkt zu politischen Ereignissen Stellung zu nehmen, auf offensichtliche Mißstände hinzuweisen. Die Ereignisse gehen nicht an uns vorbei, wir, unsere Investitionen sind direkt davon betroffen.“

Vor kurzem hatte die türkische Baufirma Sitar die Koffer gepackt und war mit dreißig Fachleuten in die Türkei zurückgekehrt, nachdem ihre Mitarbeiter in Leipzig zwei Nächte hintereinander angegriffen worden waren. Die Firma stellt Schadenersatzansprüche an die Stadt. Ahmet Güler denkt an einen Steuerboykott.

„In der Verfassung ist verankert, daß jeder, Deutscher oder Nichtdeutscher, das Recht auf körperliche Unversehrtheit hat. Wenn der Staat nicht in der Lage ist, dies zu gewährleisten, dann hat er kein Recht, Steuern von uns einzutreiben. Wozu? Mit unseren Steuern erbringen wir eine Leistung und erwarten selbstverständlich eine Gegenleistung, nämlich Schutz vor Gewalttätern. Das ist die Idee hinter unserem Aufruf zum Steuerboykott. Soll das Finanzamt das Geld einklagen. Uns geht es darum, unser Anliegen an die Öffentlichkeit zu tragen.“

Er macht eine kurze Pause.

„Es gibt in den letzten Wochen viele gute Anzeichen, die Lichterketten, der Rückgang der Kriminalität. Politiker kamen auf uns zu, gestanden Fehler in der Vergangenheit ein und versprachen, diese nicht zu wiederholen. Es ist ein Widerspruch in sich, daß erst eine Million Menschen auf die Straße gehen müssen, damit die Polizei die Mörder faßt. In einem Jahr sind Wahlen. Wir werden sehen, ob Ausländer wieder als Wahlkampfthema mißbraucht werden.

Die Diskussion um das Wahlrecht für Ausländer ist absurd. Deutschland hat die Maastrichter Verträge ratifiziert. Demnach wird spätestens 1997 für alle innerhalb der EG lebenden Ausländer das Wahlrecht eingeführt. Anstatt die Bevölkerung zu informieren, beharrt die Regierung auf ihrer ablehnenden Haltung, um Stimmen zu bekommen. Dabei gibt es soviel zu tun: das Ausländergesetz muß geändert werden. Die Einbürgerung allein ist keine Lösung, in Deutschland bleibt man auch mit einem deutschen Paß in der Tasche Ausländer. 1991 wurde in Berlin ein türkischer Junge von Neonazis ermordet. Er hatte einen deutschen Paß in der Tasche und konnte besser Deutsch als seine Mörder. In Deutschland bleibt man womöglich für immer Ausländer. Diese Einstellung muß geändert werden.“

Er holt tief Luft: „Eins steht fest: Deutschland kommt nicht ohne uns aus. Wir müssen uns unserer Macht bewußt werden. Wir sind gegen Gewalt. Wir raten allen Ausländern davon ab, auf Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren. Wir versuchen, mit wirtschaftlichem und politischem Druck die Verhältnisse zu ändern. So lange werden wir keine Ruhe geben.“