■ Wolf spricht, Müller schweigt
: Im Zweifel für die Debatte

Heiner Müller schweigt, Christa Wolf hat sich geäußert. Freilich ist sie weit weg (in den USA) und er mittendrin, liegt „ihr Fall“ lang zurück und seiner reicht in die Gegenwart. Und schließlich kann sie auf eine umfassende Entlastung hinweisen (die Schließung ihrer IM-Akte nach drei wenig erfolgreichen Jahren der „Abschöpfung“), während er bisher auf nichts verweisen kann, als auf sein Unschuldsbewußtsein. Und trotzdem: Christa Wolf hat den Schritt gemacht, auf den wir bei Heiner Müller vergeblich warten – und sie hat ihn eigentümlicherweise so begründet, daß sie Müllers Schweigen, vermutlich unwillentlich, erschüttern muß. Müller hat die Tatsache, daß er über seine „Beratungen“ (mit) der Staatssicherheit öffentlich bis zur letzten Woche nichts verlauten ließ, mit der „vergifteten Atmosphäre“ in der Bundesrepublik begründet. Wie Heidegger (im postum veröffentlichten Spiegel-Interview in den 60ern), wie Christa Wolf in den vergangenen Jahren formulierte er die Furcht des in dubio contra reum als Vorwurf: Aufklärung sei nicht möglich, wo Verleumdung und die Erledigung der Geschichte das Interesse mobilisieren.

Für diesen Vorwurf gibt es Gründe: Es waren die Westmedien, welche seit Ende 1989 Themen und Personen bestimmten, an denen die DDR „aufgearbeitet“ wurde, und es war von diesen Medien abhängig, wer in welchem Ton und Umfang zu Wort kam. Die Ostmedien verhielten sich reaktiv und nicht argumentativ, sondern allein im Gestus solidarisch: So kam kein Widerstreit zustande. Weitgehend unreflektiert agierten auch beide Medienländer ihrer Erfahrung mit Öffentlichkeit entsprechend: der Westen nach dem Motto „Erst mal raus damit, und dann vielleicht darüber reden“, der Osten nach der Devise: „Erst mal darüber reden, und dann vielleicht raus damit“. Im ersten Fall hat die Gesellschaft die Verantwortung für die Aufklärung über sich selbst, im zweiten haben die Medien die Verantwortung für das, was sie der Gesellschaft im Namen der Aufklärung zumuten.

Tatsachen und Meinungen

Insofern kann man Müller folgen. Auch im Westen wird bedauert, daß die Diskussion über die Vergangenheit in der DDR sich immer wieder auf die Frage „IM oder nicht?“ beschränkt, daß ein Ausschnitt der historischen Wirklichkeit (nämlich die Tätigkeit der Staatssicherheit) oft für das Ganze genommen wird. Aber tragen dafür nicht auch die ProtagonistInnen der Vergangenheit Verantwortung, die, indem sie schweigen, Aufklärung verhindern, wo sie möglich wäre – im Gespräch nach Klärung der Fakten?

Als Hannah Arendt 1950 das sich restaurierende Westdeutschland besuchte, war sie irritiert von der allgemeinen Verdrängung, mit welcher die jüngste Vergangenheit nichtbehandelt wurde: „Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen. ...auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, daß jeder Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentlemen's Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt... Dies ist in der Tat ein ernstes Problem, nicht allein, weil Auseinandersetzungen dadurch oftmals so hoffnungslos werden..., sondern vor allem weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, dieser allgemeine Wettstreit, dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie.“

Für die Feststellung der Tatsachen hat sich das wiedervereinigte Deutschland die Gauck-Behörde geschaffen, deren Arbeit drei Kategorien unterscheidet: eindeutige Belastung (Führung in der IM- Kartei und Arbeitsnachweise in „Opfer-“ und ggf. „Täterakten“ wie bei Ibrahim Böhme, Sascha Anderson u.a.), eindeutige Entlastung durch Schließung der Akte (Christa Wolf 1958 bis 1962) bzw. damit, selbst Gegenstand operativer Vorgänge gewesen zu sein (ebenfalls Christa Wolf, seit 1965) – und das Interessanteste, den Zweifelsfall: die Führung und Abschöpfung als IM, womöglich ohne Wissen des Gesprächspartners. Heiner Müller nimmt für sich in Anspruch, zwar mit der Stasi geredet zu haben, aber dies a) ohne jemandem zu schaden und b) ohne Kenntnis seiner Karteikartenerfassung als IM. Damit hat er dennoch die Bedingungen erfüllt, die genügen, sich jenen prekären Titel zu erwerben: Er hat die Stasi als Dialogpartner akzeptiert, und er hat über seine Gespräche Stillschweigen bewahrt (sonst wäre seine Akte geschlossen worden).

Es werden bisher drei Positionen zum Zweifelsfall bezogen: das Achselzucken, die Empörung und die Nachfrage. Das Achselzucken lautet in Rede übersetzt: Macht Euch nichts vor, wer dablieb und wer wichtig war, hat mit der Macht geredet, und alle haben es gewußt. Eine aparte Beifügung liefert das biographische Argument: Die Wessis, die sich empören, haben unsere Realität immer noch nicht begriffen (beiläufig eine Reaktion, die wir auf Nachfragen zu den kurzen Tausend Jahren kennen). Was ist dieses Achselzucken anderes als Arendts „nihilistischer Relativismus gegenüber Tatsachen“, die Verwechslung dieses Meinungsgeredes mit Demokratie und die stillschweigende Übereinkunft, „daß es auf Meinungen nun wirklich nicht ankommt“?

Die Empörung argumentiert fundamentalistisch und ebenfalls mit Verweis auf die Erfahrung: Wer immer mit der Stasi redete, mußte sich bewußt sein, daß jedes Wort seinerseits verwendet werden konnte zum Schaden anderer und zum Nutzen der Repression. Die Nachfrage muß hier beginnen: Wie hat eine repressiv organisierte Öffentlichkeit auf öffentliche Intellektuelle gewirkt, welche Anziehungskraft hatte „die Macht“? Und wie ist – im Falle Heiner Müllers beispielsweise – das Mißverständnis beschaffen, das sich für klüger hält als den Feind?

Nachfragen und ihre Möglichkeiten

Es ist nicht zu erwarten, daß bei einer Diskussion am Ende Konsens steht: Es wird nach wie vor die Position der DDR-Dissidenz geben, die das Sprechen mit der Macht verurteilt. Aber es ist doch zu wünschen, daß die Kenntnis über die Realität mit der anhaltenden Debatte steigt und nicht sinkt. Hierzu wäre hilfreich, wenn sich Müller äußerte – aktuell und nicht mit Verweis auf Tonbänder (das „Material“ seiner Autobiographie), deren Nachdruck die FAZ bereits in der letzten Woche erwartungsfroh ankündigte... Hierzu wäre hilfreich, wenn diskutiert würde, wo in einer verzerrten Öffentlichkeit wie der der DDR authentisches Sprechen möglich war. Welche narzißtische Verführung eine Politik offenbar bot, die Schriftstellern ihre Wirksamkeit durch Verbot oder konspirative Mitarbeit bestätigte. Und wie ein Selbstmißverständnis zustande kommt der Art, daß ein poetologisch hochreflektierter Autor wie Müller meinte, die Wirkung seiner Worte (gewechselt mit der Staatssicherheit) beurteilen und kontrollieren zu können, obwohl der Kontext, indem sie gewechselt wurden, schon konspirativ, repressiv und strategisch war. Vielleicht markiert Wolfs Versuch, „die Diskussion um unsere Vergangenheit zu versachlichen und zu entdämonisieren“, den Beginn einer Debatte, an deren Ende nicht der Befund stehen muß, den Arendt vor 40 Jahren formulierte. Elke Schmitter

Der zitierte Arendt-Aufsatz findet sich in: Hannah Arendt: „Zur Zeit“. Rotbuch Verlag.