Arbeiter-Schlachtschiff auf Schlingerkurs

■ Abschied vom Filz und der reinen Klassenkampflehre in den Führungsetagen der Gewerkschaften / Taz-Serie Teil 1

Gewerkschaften / Taz-Serie Teil 1

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2å Wenn ein solider Sozialwissenschaftler heute die Mitgliedsbücherder Hamburger Gewerkschaften auswertet, geht es ihm, als hätte er plötzlich eine Zeitmaschine angeworfen: Die heute in den DGB-Gewerkschaften organisierte abhängig beschäftigte Klasse, hat mit der Arbeitswelt unserer Tage nur wenig zu tun. Das heißt sie setzt sich vorwiegend zusammen aus Männern sowie Arbeitern in Großbetrieben und ist zudem überaltert. Sie ist, wie Soziologen herausgefunden haben, ein Abbild der 50er Jahre.

Wenn ein taz-Journalist dieser Tage durch die Chef-Etagen der Hamburger Gewerkschaftsfunktionäre tingelt, macht er eine erstaunliche Entdeckung: Die alten Bosse, stramme Rechtssozis der Marke „die Fahne hoch!, die Reihen fest geschlossen!“ sind beinahe ausgestorben. Er begegnet selbstkritischen Akademikern, präzisen Analytikern, kunstsinnigen Feingeistern und ab und an sogar schon Frauen in gewerkschaftlichen Führungspositionen. Kurz: ein getreues Abbild jenes Generationswechsels, der sich heute an vielen Stellen unserer Gesellschaft vollzieht.

Im Gebälk der Gewerkschaften knirscht es. Alles ist plötzlich so anders: Wo ist die Gewerkschaftsjugend, die sich mühsam von Resolution zu Resolution kämpft, und -

1immer geknebelt vom Anspruch auf gewerkschaftliche Solidarität -

klammheimlich gegen die reaktio-

nären Gewerkschaftsbosse wettert? Wo sind die brandheißen Rechts- Links-Konflikte, die "Wir-da-unten- Ihr-da-oben-Schlachten"? Plötzlich ist das alte Koordinatensystem futsch. Als ob das nicht schon chaotisch genug wäre, wollen die neuen Führer gar nicht mehr führen: Sie predigen Öffnung, wollen Dezentralisierung, Eigenverantwortlichkeit, fördern und fordern grundsätzliche Kritik, entwickeln im Diskurs Konzepte und fragen sich manchmal sogar, ob ein Dienstwagen noch zeitgemäß ist.

Baß erstaunt von diesem nachhaltigen „wind of change“ sind vor allem die „Hauptamtlichen“ der mittleren Ebene. Der Wechsel an der Spitze kam nämlich oft über Nacht: Irgendwie sind die Seile der alten Seilschaften gerissen. Die alte Generation reserviert nicht mehr so vehement wie früher die Posten für ihre Günstlinge, dadurch haben nun auch neue Leute eine Chance. Qualifizierte Outsider, nicht mehr so leicht in irgendwelche Schubladen einzuordnen, fanden sich — oft zur eigenen überraschung — in den Spitzenpositionen der Apparate wieder, die sie eben noch kritisch analysierten. So zum Beispiel bei ÖTV, IG Metall, DGB, GdED (Eisenbahnergewerkschaft), IG Che-

1mie und HBV (Handel-Banken-Versicherungen).

Im Mittelbau dagegen hocken oft

brave, aber biedere Sekretäre, die gewöhnlich nur einmal im Jahr aufwachen, dann nämlich, wenn die Tarifrunden anstehen. Sie haben es sich zumeist bürokratenmäßig gemütlich gemacht. Sie befolgen Vorgaben von oben, haben sich nicht selten einen eigenen Schrebergarten an Kontakten und inhaltlichen Schwerpunkten zugelegt, den sie am liebsten im Stillen gießen und pflegen. Ihr Arbeitsleben folgt gewöhnlich einem überschaubaren Korsett: Ein bißchen Intrige, ein bißchen Buckeln, ein bißchen Treten, ein bißchen Gewerkschaftskatechismus, ein bißchen Karriereplanung (viel ist bei den Gewerkschaften eh nicht drin), vor allem aber ein scharfes Augenmerk auf erworbene Sozialstandards (z.B.Aufsichtsratsposten) und Absicherung der eigenen Position.

In diese behagliche Ruhe hinein stürmen die neuen ChefInnen. Sie bedienen sich nicht selten einer ganz ungewohnten Form von Tagungen: Kommunikationsseminare mit externen Moderatoren, gruppendynamischem Schicki-Micki und genauem Nachbohren bei inhaltlichen Fragen. Wie sehnt man sich da nach den seeligen Zeiten mit Gulaschkanone und Top 1 bis Top 14 zurück, als es lediglich galt, ein paar Referaten zu lauschen und genügend Zuckerstückchen für den Pausenkaffee zu organisieren.

Auch die neuen ChefInnen sind schockiert: Viele von ihnen dachten, es würde ausreichen, bloß mal die Fenster zu öffnen, um ein bißchen frische Luft hereinzulassen. Jetzt erleben sie, wie zäh es ist, einen Reformprozeß von oben zu organisieren. Da reicht es auch nicht, daß mancher im Funktionärsapparat willig auf den Modernisierungszug aufspringt. Gemeinsam erlebt man die Fährnisse der „neuen Unübersichtlichkeit“: Während die Strukturkrise der Gewerkschaftsmitgliedschaft andauert, bröseln die alten Filzstrukturen, rollt Welle um Welle neuer Anforderungen auf die Gewerkschaften zu.

Die Sache mit dem Filzverlust ist nicht so ganz ohne: Der stramme Sach- und Gefolgschaftskonsens zwischen Gewerkschaft und Rathaus ist gestört, auch wenn DGB- Chef Erhard Pumm brav dem Werben der SPD gefolgt ist und zu Beginn dieser Legislaturperiode seinen Proporzplatz in der SPD-Bürgerschaftsfraktion eingenommen hat. Weder gelingt es den Gewerkschaften heute die Rolle des Seismographen für die Politik zu spielen (Pumm wurde vom Bürgerzorn über den Diätenskandal ebenso kalt erwischt wie der Senat), noch kann die Gewerkschaft der Rathauspolitik Wählerstimmen und politische Gefolgschaft garantieren.

Die Rathausbosse strafen die Gewerkschaften mit wachsender Mißachtung. Das heißt Machtverlust. Umgekehrt leidet natürlich auch das Rathaus: Ein wichtiges Herrschaftsinstrument ist ersatzlos weggebrochen. Gleichzeitig aber müssen sich die Gewerkschaften, wollen sie überleben, immer stärker in politische Felder einmischen, die bisher arbeitsteilig von SPD und Senat besetzt waren. Die ÖTV macht Müllpolitik, die HBV Sozialpolitik, der DGB fordert Verkehrspolitik, die IGM will eine neue Industriepolitik und dies alles meist quer zum Rathaus.

Bei ihren ersten Trippelschritten zu einem neuen Selbstverständnis und einem neuen breiteren gesellschaftpolitischen Engagement machen die Gewerkschaften weitere bittere Erfahrungen: Plötzlich sind ganz andere Fähigkeiten gefragt: konzeptionelles Denken, Flexibilität, Kreativität. Doch, woher nehmen und nicht stehlen? Kluge engagierte Köpfe lassen die Gewerkschaften inzwischen meistens liegen, finden keinen Platz für sie in ihrer Lebensplanung. Kurz: Der organisierten Arbeiterklasse fehlt es zumindest im Mittel- und Unterbau schlicht an Menschen, die in der Lage sind, die neuen Erkenntnisse in praktische Gewerkschaftspolitik umzumünzen.

Manchem Gewerkschaftserneuerer kommen inzwischen sogar Zweifel an einer echten Zukunftschance: „Wenn wir nicht in den nächsten fünf Jahren für jeden sichtbar auf einen neuen Kurs kommen, dann kannst Du die Gewerkschaften als gesellschaftlichen Faktor vergessen.“ „Dabei“, so einer der deprimierten Steuerleute, „sind wir jetzt, wo der siegreiche Kapitalismus auf dem Prüfstand steht, wichtig wie nie zuvor.“

Florian Marten